In der chemisch-pharmazeutischen Industrie stehen 2026 Tarifverhandlungen an. Während die IG BCE demnächst mit ihrer Forderungsfindung beginnt, hat der Bundesarbeitgeberverband Chemie bereits die Verhandlungen mit ihrer Forderung nach einer „Atempause jetzt!“ gestartet.
Die Kapitalseite führt den „Einbruch um 15 % in der Chemie- und Pharmaproduktion“ u.a. auf „hohe Kosten für Arbeit“ zurück; sie sind sich nicht einmal zu schade, zu behaupten, die Branche stehe „unter existenziellem Druck“, weshalb „die Sozialpartner Verantwortung übernehmen“ müssten. Die Lage führe nämlich „zu einem Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der chemischen Industrie“.
„Es gibt kein Wachstum. Es gibt keinen Aufschwung. Es gibt keinen Verteilungsspielraum. Im Gegenteil: Den Betrieben steckt die Entgelterhöhung um 4,85 Prozent vom April 2025 noch in den Knochen“, so wird weiter argumentiert. Damit nicht genug, behaupten die Chemiebosse: „Machen wir Arbeit noch teurer, verschärfen wir die Krise und stellen noch mehr gut bezahlte Arbeitsplätze ins Risiko“. Die Behauptungen des deutschen Chemiekapitals stellen es so dar, als wäre die Chemiebranche kurz vor dem Abgrund und sei kaum noch in der Lage, ihre Kosten zu decken, weshalb die nächste Tariferhöhung das Ende der Chemiebranche in Deutschland besiegeln könne.
Doch ist dem so? Klarheit bringt ein Blick in die Zahlen des Verbands der Chemischen Industrie (VCI): Dass die Produktion gegenüber 2018 um 15 % zurückgegangen sei, ist richtig. Richtig ist aber auch, dass 2018 das produktionsstärkste Jahr seit 1995 war. Die Produktionszahlen von 2024 liegen ungefähr auf dem Stand von 2005 und zugleich oberhalb der Produktionszahlen vom Wirtschaftskrisenjahr 2009. Hinzukommt, dass die Produktion im Vergleich zum Vorjahr stabil geblieben ist, also nicht weiter abstürzt.
Der reine Umsatz ist seit 1998 kontinuierlich angestiegen, inflationsbereinigt ist er weitestgehend stabil und lag 2024 in etwa auf dem Niveau von 2020. Andersrum ist es, wenn man die Situation der Arbeiter betrachtet, was die Bosse natürlich aufs Schärfste vermeiden. Der Anteil der Entgelte am Umsatz lag 1994 noch bei fast 19 %, sind es heute nur noch 15,3 %. Von 1998 bis 2018 stieg die Produktivität um über 50 %, die Entgelte jedoch nicht einmal um 16 %. Und auch das war nicht von Dauer, denn seit 2019 sind die Reallöhne pro Chemiearbeiter um gut 6,5 % zurückgegangen.
Und wie sieht es bei dem anderen „Sozialpartner“ aus? Bei Betrachtung der Zahlen seit der Jahrtausendwende lässt sich kein Jahr finden, in dem die Branche keine Profite abgeworfen hat. Im Schnitt lag die Nettoumsatzrendite bei 7,2 %. Auch im Jahr 2022 noch – neuere Zahlen sind im VCI-Bericht nicht veröffentlicht – lag die Nettoumsatzrendite bei soliden 5,2 %. Der Jahresüberschuss der Konzerne wächst; der pro Arbeiter erzielte Jahresüberschuss wächst dabei sogar doppelt so stark.
„Die Analyse der aktuellen Lage ist“ also in der Tat „eindeutig“, jedoch nicht so, wie es die Chemiebosse behaupten. Es sind nicht die Konzerne, die eine „Atempause“ benötigen, sondern die Arbeiter. Insbesondere, nachdem die Industriegewerkschaften als „Sozialpartner“ „Verantwortung übernommen“ haben, indem sie sich im Interesse der Konzerne für den Brückenstrompreis eingesetzt haben, wodurch die Industrie – aber nicht die Haushalte – nun durch die Senkung der Stromsteuer die nächste Strompreissubvention durch die öffentliche Hand bekommt, wäre es Zeit, dass der andere „Sozialpartner“ nun „Verantwortung übernimmt“. Dass dieser sich für diesen Einsatz dadurch bedankt, dass er „mehr Produktivität, statt steigende Entgelte“ fordert, darf nicht nur den Chemie- und Pharmaarbeitern ein weiteres Beispiel dafür sein, wofür „Sozialpartnerschaft“ steht: Die Arbeiterinnen und Arbeiter vor den Karren des Kapitals zu spannen.
Deshalb sind die Chemie- und Pharmaarbeiter gut beraten, wenn sie nicht auf die Märchen der „Sozialpartnerschaft“ derer hören, die nur Klagelieder über ihre vermeintlich schlechte Lage anstimmen, jedoch über die seit sechs Jahren andauernden Reallohnkürzungen der Arbeiter kein Wort verlieren. Die Chemie- und Pharmaarbeiter haben die Chance, sich mit starken Forderungen gegen diesen Trend zu stemmen. Die Forderungsfindung beginnt ab November, doch die Diskussion in den Betrieben startet bereits.

