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Das Erbe von Neumark und Kessler

Sowohl die Drohungen als auch die Unterstützung und die Solidarität für die 1128 Akademiker, die den Friedensaufruf unterschrieben haben, halten weiter an. Das angestrebte Ziel der regierungsnahen Presse ist es, die Dozenten, die von allen Reihen der Regierung als „Verräter“ tituliert wurden, täglich weiter zu diffamieren und unter Druck zu setzen. Dahingegen, während sich stündlich die Unterschriften mehren, ist zwischen den Akademikern und anderen Teilen der Gesellschaft ein wichtiges Solidaritätsnetz geflochten worden. Journalisten, Schauspieler, Juristen, Literaturwissenschaftler, Dolmetscher, Psychologen, Studenten und das wichtigste, viele Arbeiter sagen, dass die Akademiker nicht alleine sind. Darüber hinaus sprechen sich immer mehr Mitglieder der Lehrerschaft dafür aus, -obwohl sie keine Unterschriftenkampagne gestartet haben- dass sie die Meinung und Forderungen ihrer Freunde teilen.

Die gemeinsame Erklärung einiger Rektoren von verschiedenen Hochschulen und Universitäten, die sich wiederum hinter die Regierung stellten, entbehrte jeglicher rechtlicher und moralischer Grundlage und war mehr lächerlich als hilfreich. Als Extrembeispiel sei hier genannt, dass die „Abant Izzet Baysal Universität“ in Bolu, die bereits emeritierten und verrenteten Hochschulangehörigen, die den Friedensaufruf unterschrieben hatten, mit juristischen Mitteln bedroht, Ermittlungsverfahren gegen diese einleitet und diese vor Gericht zerren will. Die Akdeniz Universität in Antalya erklärte ebenfalls, gegen alle Hochschulangehörigen, die den Aufruf unterschrieben haben, ein gerichtliches Verfahren einzuleiten. In der Begründung distanzierte sich der Rektor von den „Vaterlandsverrätern“, sagte, dass nur die Unterschreiber diese Denkweise aufweisen würden und die schwarzen Schafe nicht für die gesamte Universität sprechen würden. Die Mehrheit würde von den Unterschreibern in Abstand gehen und würde die Unterschriftenkampagne als Fehler bewerten.

Die Akademiker, die den Aufruf unterschrieben haben, als „Verräter“, „dumm“ und „düster“ zu beschimpfen und zu bezeichnen, hat den Grund, dass man Angst hat und sich verpflichtet fühlt, „die Interessen des Staates zu schützen“. Vielleicht auch deswegen, weil von Regierungsangehörigen bis zu den Rektoren, von Polizei bis Armeevertretern, von der regierungsnahe Presse bis zu manchen Akademikern, deren Kollegen von Strafanzeigen betroffen sind und auch der Vorsitzende der Anwaltskammer, einfach jeder immer und immer wieder die gleiche Erklärung abgibt. Noch mehr, dieser Ansatz, die Grenzen der akademischen Freiheit nach den Interessen des Staates zu bestimmen, wird wie eine universale Selbstverständlichkeit, verharmlost. Jedoch deutet dieser Ansatz auf eine, durch die aufgeklärte Rede- und Meinungsfreiheit auf internationaler Grundlage längst abgeschlossene theoretische und akademische Diskussion hin, die wieder entfacht werden soll.

Und wenn man bedenkt, dass die Türkei in den 30`er Jahren asylsuchenden Akademikern aus Deutschland ein zu Hause gegeben hat, ist es in der Praxis umso ironischer. Denn die asylsuchenden Akademiker, die es abgelehnt haben, ihre akademische Freiheit für die Interessen des faschistischen Nazi-Staates begrenzen zu lassen, wurden verfolgt, unterdrückt, bedroht und konnten sich nur noch durch Flucht retten. Die Wirtschaftsfakultät der berühmten Istanbul Universität z.B. wurde von einem dieser asylsuchenden Akademiker, Prof. Dr. Fritz Neumark, aufgebaut und gegründet.

Das Buch „Bogazici’ne Siginanlar“ („Zufucht am Bosporus“) von Prof. Neumark, handelt von ca. 100 Gelehrten, Politikern und Künstlern, die aufgrund ihrer politischen Ausrichtung und Haltung mit dem Nazi-Staat im Streit waren und damit dem Druck ausgesetzt waren, ihre Karrieren, Familien und ihr Land zu verlassen und auszuwandern. Das Buch wurde übrigens von der Wirtschaftsfakultät bereits in der zweiten Auflage mehrtausendfach gedruckt.

Ein weiterer Akademiker, der fliehen musste, war sogar der Lehrer meines eigenen Lehrers, Prof. Dr. Gerhard Kessler. Prof. Kessler hat in seinen Schriften und Aufrufen gegen die Nazis ganz offen gefordert und betont, dass aus der Geschichte heraus jeder Mensch das Recht hat, gegen das Verbot oder die Einschränkung der Freiheit zu kämpfen und politische Pflichten und Aufgaben im Dienste der Gesellschaft zu erfüllen hat. Deswegen wurde er seitens der Nazis von seinen Aufgaben „entbunden“ und musste fliehen.

Prof. Rüstow wurde an die neu eröffnete Istanbul Üniversitesi berufen, zusammen mit den ebenfalls emigrierten Kollegen Röpke (Nationalökonomie), Neumark (Finanzwissenschaft), Isaac (BWL) und Kessler (Soziologie).

Die Türkische Republik hat diese Akademiker, die es abgelehnt haben, ihre akademischen Freiheiten für die Interessen des Staates begrenzen zu lassen, an die Brust genommen und sie sogar damit beauftragt, zukünftige Wissenschaftler auszubilden. Auf der Website der Istanbuler Universität findet man folgende Erklärung zu Neumark, Kessler und anderen:

„Das Fach Ökonomie war im Rahmen der juristischen Fakultät den Lehrenden übergeben worden, die vor Kummer und Sorge Deutschland verlassen hatten. Diese weisen Lehrer bauten in unserem Land die Wirtschaftswissenschaften auf.“

Ist das nicht ironisch?

Nilgün Tunccan Ongan

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