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Die Arbeiterklasse der Türkei

Nilgün TUNÇCAN ONGAN

Das Referat für Studien der DİSK (DİSK-AR) hat kürzlich die Ergebnisse einer Studie mit dem Titel “Die Wirklichkeit der Arbeiterklasse der Türkei” vorgestellt. Das erklärte Ziel der Studie, bei der 2.000 Arbeiter befragt wurden, ist nach Angaben der DISK, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, aber auch ihre Wahrnehmung und Erwartungen herauszufinden. Die vorgelegten Ergebnisse bestätigen die strukturellen Probleme des Arbeitsmarkts: lange Arbeitszeiten, Niedriglöhne und unorganisierte Beschäftigte.
Bei 74 % der Arbeiter liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit laut der Studie bei über 40 Stunden. In EU-Ländern arbeiten rund 20 % der Arbeiter mehr als 40 Stunden in der Woche. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit, die in den OECD-Ländern bei 40,4 Stunden liegt, beträgt in der Türkei 49 Stunden. Von diesen Überstunden sind insbesondere informelle und nicht organisierte Beschäftigte betroffen.
Die Studie zeigt, dass der durchschnittliche Monatslohn der Arbeiter den Mindestlohn nicht übersteigt. 16 % verdienen weniger als den Mindestlohn. Nur zwei Drittel verdienen einen Monatslohn von 2.000 Lira, der knapp über dem Mindeslohn liegt. Der Monatslohn der unorganisierten Arbeiter liegt unter dem Durchschnitt. Der Monatslohn der informell Beschäftigten liegt wiederum weit darunter.
Laut der Studie hinken die unorganisierten Beschäftigten in jeder Hinsicht den organisierten Arbeitern hinterher. Die Organisierungsrate gibt daher den Ausschlag für ihre Arbeitsbedingungen. 87 % der Beschäftigten sind kein Gewerkschaftsmitglied. Und 60 % von ihnen beabsichtigen nicht, in die Gewerkschaft einzutreten. Bei dieser Entscheidung dürften nicht nur ihr Klassenbewußtsein, sondern auch fehlende Lösungsansätze von Gewerkschaften eine Rolle spielen.
Die Studie zeigt auch, dass die Arbeiter von den “Wachstumsraten auf Rekordhöhe” nichts abbekommen. D.h. die Ergebnisse machen deutlich, auf wessen Kosten die Rekorde erreicht werden. Lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne, geringe Organisierungsgrade und hohe Zahl der prekär Beschäftigten strafen die gebetsmühlenartig wiederholte Phrase von der “unflexiblen Arbeitswelt” Lügen.
Genauso wichtig wie die Antworten der Arbeiter sind auch die Angaben, die sie nicht gemacht haben. Viele Fragen ließen die Befragten unbeantwortet. Jeder 5. Arbeiter gab keine Antwort auf die Frage, welche aktuellen Probleme sie bei der Arbeit sehen. Über 40 % gaben keine Antworten auf Fragen bezüglich der Gewerkschaften und -mitgliedschaften. Über ein Viertel machte keine Angaben zu der Klassenzugehörigkeit. Es ist davon auszugehen, dass der Grund dafür nicht ausschließlich im fehlenden Klassenbewußtsein zu suchen ist. Auch ihre Ängste und Sorgen spielten dabei eine wesentliche Rolle. Denn die meisten Befragten bejahten die Frage “Welche Art von Diskriminierung erfahren Sie?” mit der Antwort “politische Diskriminierung.”

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