Yücel Özdemir
Deutschland ist unter außergewöhnlichen Bedingungen in das Jahr 2025 gestartet. Die nach den Bundestagswahlen 2021 gebildete Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP zerbrach Ende 2024 infolge wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung sowie eskalierender Debatten um die Schuldenbremse. Daraufhin wurde beschlossen, am 23. Februar 2025 vorgezogene Neuwahlen abzuhalten.
Die Wahlen im Winter brachten Ergebnisse hervor, die man -zumindest für die Regierungsparteien- auch als „eiskalt“ bezeichnen kann. Die FDP, der radikalste Vertreter des Neoliberalismus, scheiterte an der Fünfprozenthürde und flog aus dem Parlament. Die Grünen, die sich zu einer Propagandamaschine für Krieg und Militarismus entwickelt hatten, verloren Stimmen. Die SPD, die eine führende Rolle beim Abbau erkämpfter Rechte der Beschäftigten gespielt hatte, erlitt die schwerste Wahlniederlage ihrer Geschichte.
Den eigentlichen Stempel drückte den Wahlen jedoch die rechte Partei Alternative für Deutschland (AfD) auf: Sie verstand es, die aufgestaute Wut und Ablehnung gegenüber den etablierten Parteien aufzufangen, verdoppelte ihre Stimmen und erreichte 20,8 Prozent, während die ehemaligen Koalitionsparteien rund 19,5 Prozent der Stimmen verloren.
Aus diesem für die Koalitionspartner desaströsen Bild verstand es das deutsche Kapital, eine für sich äußerst produktive Regierung zu formen: Unter Führung von Friedrich Merz, einem Lobbyisten des Finanzkapitals und der Rüstungskonzerne, entstand eine Regierung, in der die SPD faktisch nur noch als Stützpfeiler dient. Obwohl klar war, dass eine von Merz geführte Regierung für die SPD weiteren Machtverlust bedeuten würde, wurde dieser Weg dennoch eingeschlagen.
Noch bevor die neue Regierung ihre Arbeit aufnahm, kam es zu einem in der deutschen Geschichte seltenen Schritt: Mit Unterstützung der alten und der künftigen Regierungsparteien wurde das Grundgesetz geändert und die sogenannte „Schuldenbremse“ aufgehoben.
Bei der Abstimmung am 18. März wurde mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, die Obergrenze für Militärausgaben anzuheben. Ausgaben oberhalb von einem Prozent wurden aus der regulären Haushaltsrechnung herausgenommen. Damit können zwar Schulden für militärische Zwecke aufgenommen werden, diese sollen jedoch nicht sichtbar oder zumindest nicht als solche wahrgenommen werden.
Um mögliche Proteste abzufedern, wurde zusätzlich ein Infrastrukturpaket in Höhe von 500 Milliarden Euro sowie ein Klimafonds von 100 Milliarden Euro beschlossen.
Mit der Aufhebung der Schuldenbremse wurde die der expansiven Interessen des deutschen Kapitals entgegenstehende „Haushaltsdisziplin“ durchbrochen – insbesondere zugunsten der Aufrüstung. Entsprechend fiel der Haushalt 2026 durch neue Schulden um 155 Milliarden Euro höher aus als zuvor. Die Militärausgaben stiegen – inklusive Sonder- und Geheimfonds – auf nahezu 150 Milliarden Euro.
Hierbei handelt es sich um einen dramatischen Anstieg. Hinzu kommen zusätzliche Mittel aus dem Infrastrukturfonds, die auch vor allem für militärische Zwecke verwendet werden sollen, etwa für den Bau von Panzer-stabilen Straßen, Brücken und unterirdischen Krankenhäusern mit militärischem Nutzen.
Mit zunehmender Klarheit über diese Politik wächst auch der Widerstand in der Bevölkerung. In allen Umfragen zum Jahresende 2025 erreichten die Regierungsparteien zusammen keine parlamentarische Mehrheit mehr. Während sie an Rückhalt verlieren, gewinnt die extreme Rechte weiter an Stärke – auch deshalb, weil es keine überzeugende progressive und linke Alternative gibt.
2026 wird deswegen parteipolitisch und wahlstrategisch ein entscheidendes Jahr. In Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin finden Landtagswahlen statt, die das politische Kräfteverhältnis neu bestimmen werden.
Können die Grünen, die seit 2011 in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten stellen, dies auch 2026 fortsetzen – noch dazu mit Cem Özdemir als Kandidaten mit Migrationshintergrund? Oder wird die CDU nach langer Zeit wieder stärkste Kraft? Wird die SPD ihren Abwärtstrend fortsetzen und dennoch Regierungspartner bleiben?
Besonders bedeutend sind die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt für die AfD. Sollte sie dort mit deutlichem Abstand stärkste Partei werden, würde die Regierungsbildung extrem kompliziert. Oder bekommt Deutschland 2026 mit Unterstützung der Christdemokraten erstmals einen AfD-Ministerpräsidenten?
Was heute noch als Horror-Szenario erscheint, wird sich 2026 konkretisieren. Festzuhalten ist, dass innerhalb bestimmter Teile des Kapitals die Tendenz wächst, die AfD ausgehend von den Ländern zu normalisieren. Denn die Politik und Rhetorik der derzeitigen Regierung – insbesondere der Christdemokraten – unterscheidet sich in zentralen Punkten kaum von der der AfD. Deren offen kapitalfreundliche neoliberale Positionen werden von diesen Kreisen sogar begrüßt.
Reaktionäre und aggressive Politik nach innen und außen
Der sich weltweit zuspitzende Wettbewerb macht immer deutlicher, dass Deutschland, um im imperialistischen Verteilungskampf konkurrenzfähig zu bleiben, eine nach innen wie nach außen aggressivere Regierung benötigt.
Der Vormarsch reaktionärer Rhetorik und Politik sorgt in Teilen des Establishments bereits für Unmut darüber, dass die SPD innerhalb der Koalition in einzelnen Fragen noch bremst. Jene, die ohne Rücksicht auf Regeln oder Hindernisse die Interessen deutscher Konzerne durchsetzen wollen, scheuen sich daher nicht, demokratische und soziale Rechte offen ins Visier zu nehmen.
Sie fordern die Beseitigung aller Hindernisse für eine Steigerung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit. Andernfalls, so ihre Propaganda, werde Deutschland im imperialistischen Konkurrenzkampf zurückfallen. Die materiellen Voraussetzungen dafür sind vorhanden. In der verschärften imperialistischen Konkurrenz steht Deutschland vor wachsenden strukturellen Widersprüchen, die sich in drei Punkten zusammenfassen lassen:
1) Aufgrund des Russland-Ukraine-Krieges wird die Versorgung mit günstiger Energie aus Russland auch im kommenden Jahr problematisch bleiben. Die höheren Energiekosten treiben die Produktionskosten in die Höhe und schränken die Exportmöglichkeiten der deutschen Industrie ein. Viele Unternehmen verlagern ihre Produktion ins Ausland – dorthin, wo Arbeitskräfte und Energie billiger sind. Das führt zu mehr Betriebsschließungen und Entlassungen. Auch im kommenden Jahr wird sich dieser Trend fortsetzen. Massenarbeitslosigkeit und Verarmung breiter Bevölkerungsschichten werden zunehmen.
2) Die von den USA angekündigten Zölle treffen Deutschland besonders stark, da es eines der wichtigsten Exportländer in die USA ist. Die protektionistische Politik unter Trump dürfte die deutsche Wirtschaft langfristig belasten. Spannungen in den transatlantischen Beziehungen wirken sich unmittelbar auf den Außenhandel aus. Vor diesem Hintergrund fordert das deutsche Kapital mit Nachdruck eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit – was in der Praxis vor allem bedeutet, Lohnerhöhungen so weit wie möglich zu begrenzen.
3) China, das von den USA zum größten Konkurrenten erklärt wurde und in den kommenden Jahren wirtschaftlich geschwächt werden soll, ist Deutschlands wichtigster Importpartner. 2024 importierte Deutschland Waren im Wert von 156,8 Milliarden Euro aus China. Es folgen die Niederlande mit 93 Milliarden Euro und die USA mit 92 Milliarden Euro.
Eine weitere Eskalation der Spannungen zwischen den USA und China oder neue Sanktionen würden die deutsche Wirtschaft massiv treffen. Unklar ist, wie widerstandsfähig Deutschland gegenüber dem Druck der USA sein wird. Während einige für die Fortsetzung der Beziehungen zu China plädieren, fordern andere, im asiatisch-pazifischen Raum geschlossen an der Seite der USA zu stehen. Die „China-Frage“ wird die Entwicklung der deutschen Wirtschaft in naher Zukunft maßgeblich beeinflussen.
Die deutsche Wirtschaft war lange Zeit erfolgreich, weil sie gleichzeitig auf russische Energie, US-Exportmärkte und chinesische Importe setzte und so zum „Exportweltmeister“ wurde. Doch nach der Euro- und der Coronakrise befindet sich die Wirtschaft seit Jahren in einer Phase der Stagnation. All dies hat das deutsche Kapital dazu veranlasst, im Kampf um neue Märkte, Rohstoffe und Energiequellen deutlich aggressiver aufzutreten als zuvor.
Die Außenpolitik wurde entsprechend militarisiert. Einerseits soll der wirtschaftliche Abschwung durch das Wachstum der Rüstungsindustrie kompensiert werden, andererseits wurden erhebliche Schritte unternommen, um die größte Armee Europas aufzubauen. Die faktische Wiedereinführung der Wehrpflicht dient weniger der angeblichen russischen Bedrohung als vielmehr den Bedürfnissen des deutschen Kapitals im globalen Wettbewerb.
Kapitalismuskrise, Kämpfe und Perspektiven für 2026
Die aktuellen Entwicklungen deuten darauf hin, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr lediglich 0,2 Prozent erreichen wird. In Verbindung mit den angekündigten Sparmaßnahmen ist davon auszugehen, dass soziale Proteste zunehmen werden. In vielen Städten begonnene Demonstrationen gegen soziale Einschnitte könnten sich ausweiten und zu einer breiteren sozialen Bewegung werden.
Gleichzeitig wird das Kapital den Druck auf die Löhne erhöhen, um im internationalen Wettbewerb nicht zurückzufallen. In Tarifverhandlungen ist daher nicht mit großzügigen Lohnabschlüssen zu rechnen. Das könnte innerhalb der Gewerkschaften zu neuen Dynamiken und Spaltungen führen.
Der Widerstand gegen Rassismus, Nationalismus und Militarismus wird sich mit der in den Vorjahren aufgebauten Erfahrung weiter verstärken und auch 2026 anhalten. Besonders unter jungen Menschen und anderen gesellschaftlichen Gruppen setzen sich Abkehr von den Systemparteien und die Suche nach neuen Wegen fort.
Die sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme beschleunigen den Bruch mit den etablierten Parteien. Die Rückgewinnung jener arbeitenden Menschen, die sich der extremen Rechten zugewandt haben, gehört auch im kommenden Jahr zu den zentralen Aufgaben.
In einer Zeit, in der Außen- und Innenpolitik miteinander verschmelzen und die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals über alles gestellt wird, besteht der Weg zu einer Umkehr darin, klarzumachen, dass die Interessen von Kapital und arbeitender Bevölkerung nicht identisch sind. Gelingt es, die Spaltungspolitik des Kapitals zurückzudrängen, wachsen auch die Chancen für einen gemeinsamen Kampf von Beschäftigten aller Nationalitäten.
2026 bietet damit für die Arbeiterklasse und die Beschäftigten deutlich bessere Voraussetzungen als zuvor, ihre Interessen selbstbewusst zu vertreten.
2026 wird für Deutschland ein Rekordjahr der Verschuldung
Die Bundesregierung plant, im Jahr 2026 erstmals mehr als 500 Milliarden Euro Schulden an den Finanzmärkten aufzunehmen. Aufgrund der vorgesehenen Militär- und Infrastrukturausgaben sollen die Ausgaben insgesamt über 512 Milliarden Euro liegen. Zur Finanzierung ist im Kernhaushalt eine Neuverschuldung von rund 98 Milliarden Euro vorgesehen. Damit wird die Verschuldung die bisherigen Höchststände aus der Zeit der Corona-Pandemie und des Ukrainekriegs übertreffen.
Die bislang höchste Neuverschuldung wurde 2023 mit 500 Milliarden Euro verzeichnet. Laut Bundesfinanzagentur belief sich die Neuverschuldung 2025 auf 425 Milliarden Euro und 2024 auf etwa 439 Milliarden Euro.
Die Bundesfinanzagentur teilte mit, dass 318 Milliarden Euro über Anleihen an den Kapitalmärkten aufgenommen werden sollen, weitere 176 Milliarden Euro über Geldmärkte. Zusätzlich sollen 16 bis 19 Milliarden Euro über sogenannte grüne Anleihen beschafft werden.
Angesichts des steigenden Schuldenstands wird der Bund höhere Zinsen bieten müssen. Die Finanzagentur rechnet mit steigenden Zinsausgaben und kündigte an, dass Deutschland 2026 erstmals Anleihen mit einer Laufzeit von 20 Jahren ausgeben wird.

