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Die Demokratie beschützen?

Alev Bahadır

Seit mehreren Wochen gehen immer wieder Zig- oder sogar in manchen Städten Hunderttausende auf die Straßen gegen Rassismus und die AfD. Unter den Demonstrierenden sind alte Menschen, Kinder, Familien, junge Erwachsene. Schilder mit kreativen Slogans rund um die AfD werden in die Höhe gehalten. Aber wer beteiligt sich eigentlich an den Protesten und wer tut es nicht? Ist es die berühmte „politische Mitte“, die jetzt zur Rettung der Demokratie auf der Straße ist?

Über die Geschehnisse rund um die Aufdeckung des Geheimtreffens der AfD haben wir bereits in den letzten beiden Ausgaben von Neues Leben ausführlich berichtet. Doch stellen sich mit den andauernden Protesten immer wieder neue Fragen. Bei Umfragewerten auf Bundesebene ist die AfD um drei Punkte auf 19 % gesunken, doch kann das auch nur eine aktuelle Reaktion auf die Proteste und ein Nebeneffekt der neuen Sahra Wagenknecht Partei sein. Sicherlich bringen die Proteste nicht Leute auf die Straße, die die AfD wählen würden, aber sie machen deutlich, wo Hunderttausende in der Gesellschaft stehen und dass Rassismus nicht einfach so hingenommen wird.

Wer nimmt teil? Wer tut es nicht?

Das Bild auf den Demonstrationen ist überall sehr ähnlich. Man trifft vor allem gutbürgerliche Personen und Familien. Meist ohne Migrationshintergrund. Es sind die, die in Zwiegesprächen glühend die Demokratie verteidigen. Die vielleicht ihr ganzes Leben lang bürgerlich zwischen FDP und Grüne gewählt haben, vielleicht auch mal links, es möglicherweise jetzt aus Enttäuschung aber nicht mehr tun. Es sind Menschen, die an einen Rechtsstaat Deutschland und an „Nie wieder“ aus tiefster Überzeugung glauben. Für viele ist nicht nur die AfD das Problem, sondern auch die Haltung der anderen Parteien, ihr ständiges nach-rechts-abdriften.

Selbstverständlich ist das Publikum auch nicht unabhängig von den Organisatoren zu betrachten. Wo es starke zivile Bündnisse „Gegen Rechts“ sind, die die Demos auf die Beine stellen, ist man deutlich kritischer mit der aktuellen Politik. Organisieren SPD und Grüne hingegen, was in nicht wenigen Orten der Fall war, wird die Regierungspolitik, die Abschiebungen, Stimmung gegen Geflüchtete und die weitere Abschottung Deutschlands und Europas vorangetragen hat, natürlich bei der Kritik außen vorgelassen.

Die Teilnahme der Migranten an den Protesten ist mit der Zeit gestiegen. Dennoch ist auch an diesem Punkt “Luft nach oben”. Man müsste meinen, dass antirassistische Proteste viel stärker von Menschen mit Migrationshintergrund besucht sein müssten. Vor allem, da in den vergangenen Jahren bei den Demonstrationen nach dem Tod von George Floyd und dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau auch zahlreiche junge Migrantinnen und Migranten immer wieder auf den Straßen waren. Es gibt viele Gründe, warum das Bild der Demonstrationen so ist, wie es ist.

Besonders nach den rechtsterroristischen Ereignissen der letzten Jahre und der Aufdeckung des AfD-Geheimtreffens gibt es ein großes Misstrauen von Migranten gegen den Staat. Sollen diejenigen Vertreter des Staats, die dafür sorgen, dass man sich nie ganz als Teil dieser Gesellschaft fühlt, deren Gewaltorgan, also die Polizei, einen ständig willkürlich kontrolliert, schikaniert oder in manchen Fällen sogar (tödliche) Gewalt ausübt, die dafür sorgen, dass man immer Bürger zweiter Klasse bleibt, plötzlich aufstehen und von Demokratie und Gleichberechtigung sprechen? Hat man keine deutsche Staatsbürgerschaft, darf man ja noch nicht einmal (wenn man kein EU-Bürger ist) auf kleinster Ebene mitbestimmen. Prominente SPD-Politiker reden einerseits davon, abzuschieben und dann plötzlich geht es darum, die Demokratie zu beschützen? Annalena Baerbock blockiert im internationalen Kontext Feuerpausen in Gaza und die Grünen wollen ernsthaft behaupten, dass Muslime ein Teil von Deutschland seien? Fast jeder Satz, den Friedrich Merz von sich gibt, strotzt nur so von Vorurteilen und Hass und jetzt will die Union ernsthaft über Menschenwürde sprechen?

Diese Doppelmoral geht natürlich auch an Migranten nicht spurlos vorbei. Sie ist nicht der einzige Grund, hinzu kommen soziale und ökonomische Ängste, eine ohnehin schwache politische Partizipation, Spaltungsversuche von den Regierungen der Herkunftsländer (z.B. Türkei). Aber es ist sicherlich einer der Gründe, warum so wenige sich an den aktuellen Protesten beteiligen. Dabei ist jetzt eine starke Einheit umso notwendiger. Eine starke Einheit, die sich entschlossen gegen Rassismus, aber auch soziale Probleme und Kriege stellt. Schließlich sind die letztgenannten Themen, diejenigen, die die AfD für sich vereinnahmen konnte, um Menschen zu gewinnen. Was wir jetzt brauchen, ist eine soziale Bewegung, die die Menschen, die aus Protest die AfD wählen, und das sind neben den hartgesottenen Rechten nicht Wenige, für fortschrittliche Kämpfe zu gewinnen. Noch tiefere Gräben werden für keine bessere Situation sorgen, sondern uns noch mehr schwächen.

Und wie war das mit der Mitte?

Die „politische Mitte“ ist ein Märchen. Ein Hirngespinst, das uns das Ideal eines unpolitischen Lebens vermitteln will und somit eine vermeintliche Nähe zwischen den „Extremen“ Rechts und Links aufzeigen will (Hufeisentheorie). Kein Mensch neigt in seiner oder ihrer Meinung nicht in bestimmte Richtungen. Was also die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung als „Radikalisierung“ benennt, ist nur die deutlichere Abgrenzung der Seiten, die im Übrigen unterschiedlicher nicht sein könnten. Während in der Bevölkerung der Glaube an Verschwörungserzählungen steigt, steigt auch gleichzeitig das Misstrauen in den Staat. Das ist nicht unbedingt rückschrittlich. Schließlich sind es die Organe dieses Staates, wie z.B. die Politik, die im Interesse der Unternehmen und gegen die Interessen der werktätigen Bevölkerung arbeiten. Die Rüstungsausgaben erhöhen, während in Gesundheit und Bildung gespart wird, die die Stimmung gegen Geflüchtete weiter anheizen. Doch wenn linke Kräfte diesen Unmut nicht nutzen, dann tun es Rechte. Da gibt es nun wahrlich keine Mitte mehr.

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