Ahmet Yasaroğlu
Die Proteste gegen die Regierung, die im Gezi-Park begannen und das ganze Land erfassten, haben nicht nur manche Wahrheit an den Tag gelegt. Sie haben auch den Weg und die Richtung gezeigt, die die Volksbewegung einschlagen muss. Eine der wichtigsten Fragen, die in diesen Wochen gestellt wurde, war, welche Auswirkungen die Proteste auf den “Lösungs-Prozess” in der kurdischen Frage haben würde. Eine andere Frage, die viele bedenklich stimmte, bezog sich auf den möglichen Einfluß der “linksnationalen-laizistischen” Kräfte auf die Bewegung. Dass diese beiden Fragen die beiden Seiten einer Medaille wiederspiegeln, liegt auf der Hand.
Fangen wir mit dem “Lösungsprozess” an. Die Gezi-Proteste, die später auf das ganze Land übergriffen, waren Ausdruck für den Wunsch nach Demokratie und Freiheit des Volkes und der Jugend in der Türkei. Sie haben gezeigt, dass die Lösung der kurdischen Frage ohne die Demokratisierung des Landes nicht möglich ist. Die Proteste waren ein schwerer Schlag gegen die Pläne der AKP-Regierung, die kurdische Frage nicht im Rahmen einer allgemeinen Demokratisierung, sondern mit Trippelschritten als Teil ihrer reaktionären Kalkulation zu lösen. Aus ihrer Sicht sollten die unternommenen Schritte zur “Beschwichtigung” und danach einer vermeintlichen “Lösung” dienen. Diese Tatsache wurde zwar in den Protesten nicht offen angesprochen. Allerdings zeigten sie praktisch auf, welchen Weg der Lösungsprozess einzuschlagen hat. Es wurde deutlich, dass die demokratische Lösung der kurdischen Frage mit der allgemeinen Demokratisierung des Landes eng verknüpft ist.
Das ist ein Fakt und hängt nicht davon ab, in welchem Mass die Kurden sich an den Protesten beteiligt haben oder wie sie diese einschätzen. Die Vorstellung, dass die Demokratie und Freiheit nur gemeinsam mit dem türkischen Volk erkämpft werden können, schlägt in breiten Teilen des kurdischen Volkes immer tiefer Wurzeln. Das kurdische Volk sah, dass es nicht allein ist. Der Staatsgewalt, die jetzt im Westen zur Niederschlagung der Volksbewegung angewendet wurde, ist das kurdische Volk seit Jahrzehnten ausgesetzt und kennt sie nur zu genüge. Zweifellos wird sich das Bewußtsein verbreiten, dass es sich dabei um denselben Staat, aber um ein anderes Volk handelt und dass dieses Volk sich in den letzten Wochen immens verändert hat.
Nun zu der zweiten Fragestellung: Die Volksbewegung blieb “linksnationalistischen und laizistischen” Sprüchen und Aufrufen fern. Es wurde für alle deutlich, dass die Demokratie und Freiheit nur mit Patriotismus, einer modernen Laizismus-Auffassung, die sich an Religions- und Gewissensfreiheit orientiert, Demokratie als unverzichtbarer Grundforderung und einer Haltung, die nicht trennt, sondern verbindet, erreicht werden können. Es ist bestimmt nicht irreführend, wenn wir behaupten, dass diese Tatsache in Bevölkerungsteilen, die unter dem Einfluss “linksnationalistisch-laizistischer” Kreise stehen, ein demokratisches Bewußtsein verankern wird und die ersten Schritte in dieser Richtung auch getan worden sind. “Linksnationalistisch-laizistische” Kräfte, die andere Ziele verfolgen, konnte in den zurückliegenden Wochen das Erhoffte nicht erreichen und werden eine bittere Enttäuschung erleiden.
Ja, in dieser Zeit wurden die Forderungen der Kurden nicht offen erhoben. Allerdings war auch keine Haltung gegen diese Forderungen oder den “Lösungs-Prozess” zu verzeichnen. Das zeugt von einer Sensibilisierung und zeigt, dass sich die Wege der beiden Bewegungen kreuzen werden. Man muss erkennen, dass die gemachten Erfahrungen das türkische Volk emotional und praktisch näher mit dem kurdischen Volk zusammenführt. Hier wurde eine Empathie gelebt, die Millionen von kämpfenden Menschen ergriffen hat. Das Volk fordert eine allgemeine Demokratisierung, die alle Glaubensrichtungen, ethnischen Bevölkerungsgruppen sowie deren Forderungen einschließt. Die Demokratie-Forderung der Volksbewegung ließ die Kurden spüren, dass sie nicht allein sind und verstärkte sie in ihrem Kampf gegen die Regierung. Kurzum: die Bewegung war nicht gegen die Forderungen der Kurden gerichtet, vielmehr versorgte sie den Kampf für Frieden und Demokratie mit neuer Kraft und verstärkte seine Basis.
Jetzt ist es an der Zeit, dass sich ihre Wege kreuzen. Die Forderungen nach Demokratie und Freiheit beider Völker bilden die Grundlage ihres vereinten Kampfes. Das Volk beantwortete auf seine Art die Frage, in welcher Richtung sich der Lösungsprozess entwickeln wird und wie ehrlich die Regierung ist. Jetzt kann kein einziger Schritt mehr unternommen werden, der diese Antwort nicht berücksichtigt. Das Gebrülle auf den Kundgebungsplätzen wird diese Antwort nicht übertönen können. Die Regierung und die von ihr eingesetzte Staatsmacht wurden tief erschüttert. Heute sehen wir eine Regierung, die ihr Gleichgewicht verloren hat. Das Volk, das in der Lage war, die Regierung zu erschüttern, wird auch in der Lage dazu sein, die Demokratie und Freiheit zu erkämpfen. Die “Lösung” liegt in der Vereinigung und die Vereinigung verleiht der Lösung einen populären Charakter. Das türkische und kurdische Volk ist heute stärker denn je, wenn es um die Umsetzung dieser Lösung geht.