Written by 17:48 HABERLER

Die „Nürnberger Südstadt“

Deniz Bahadır

 

Sie sind in aller Munde. Die sogenannten „Problemviertel“. Jede Groß- und größere Stadt hat mindestens einen Stadtteil, den man als „Ghetto“ bezeichnen könnte. So ist es auch nicht verwunderlich, dass gerade diese Stadtteile sich zu Brennpunkten entwickeln, in denen Armut und Arbeitslosigkeit weit verbreitet werden. Und mitten drin in diesen Stadtteilen befinden sich viele Menschen mit Migrationshintergrund. Wir wollten einmal einen anderen Blickwinkel von so einem Stadtteil gewinnen. Deshalb beschreibt ein Nürnberger Jugendlicher seinen Stadtteil.

Ich bin gerade hier in einem der belebtesten Stadtteile Nürnbergs: die Nürnberger Südstadt. Sie ist wirklich sehr zentral. Vom Bahnhof gelange ich innerhalb von ein paar Minuten zu Fuß sofort in die Südstadt. Es sind viele Jugendliche und Kinder auf der Straße. Die Einwohnerzahl in Nürnberg beträgt 497 949 davon haben 196 495  einen Migrationshintergrund. Und viele von diesen leben in der Südstadt. Es gibt hier wirklich viele Restaurants und Cafés, natürlich auch sehr viele Dönerläden. 19 427 Nürnberger haben ihren Ursprung in der Türkei. Ein Bild prägt diesen Stadtteil besonders: die vielen verschiedenen Kulturen, die hier gemeinsam den Ort ausschmücken. Gleich neben einem Dönerladen haben wir ein griechisches Restaurant, wo es wirklich sehr leckeren Suflaki gibt. In Nürnberg leben 8 229 griechische Mitbürger. Im Stadtteil verstehen sich wirklich alle miteinander und sie halten zusammen. Ein wirklich sehr belebter Treffpunkt ist die „Pizzeria Mario“. Hier wird ständig eine Pizza nach der anderen bestellt und die Pizzeria ist der zentrale Treffpunkt der Jugendlichen, so wie auch der Erwachsenen. Nebendran ist gleich der Annapark. Hier findet einmal im Jahr das größte Stadtteilfest statt, an dem ca. 80 000 Besucher teilnehmen. Das Fest geht drei Tage und neben Infoständen vom und zum Viertel gibt es auch ein breites kulturelles Angebot, Budenstraßen und eine Veranstaltungsbühne. Tagsüber zeigen Vereine der Südstadt einen Querschnitt ihres Könnens mit verschiedenen Auftritten, wie Folkloregruppen oder auch Gesangsdarbietungen und einiges mehr. Am Abend finden Konzerte statt. Das Südstadtfest wurde 1981 zum ersten Mal veranstaltet, damals auf dem Kopernikusplatz. Ich laufe weiter Richtung Schweigerstraße, dorthin, wo die „Pizzeria 44“ ist. Sie verkauft, als einzige in Nürnberg, eine Pizza, die eine Länge von einem Meter hergibt. Ein paar Gehminuten weiter komme ich an einen Ort, der eine klaffende Wunde in unseren schönen Stadtteil gebrannt hat. In der Scharrerstraße hatte Ismail Yasar seine Dönerbude, direkt neben der Schule. Er war ein sehr beliebter und bekannter Mitbürger in dem Stadtteil. Viele kauften sich ihre Döner bei ihm. Im Sommer holten sich alle Kinder für 10 Cent ein Wassereis dort. Dort geschah das Unfassbare. Am 9. Juni 2005 wurde er in seinem Geschäft mit fünf Schüssen in Kopf und Herz getötet. Er war 50 Jahre alt und stammte aus Suruç. Ein trauriger Tag für diesen Stadtteil. Damals behauptete die Polizei, dass Ismail Yasar, so wie die beiden zuvor in Nürnberg erschossenen Ladenbesitzer Enver Simsek und Abdurrahim Özüdogru, Verbindungen zur Mafia gehabt hätten und deshalb getötet worden wären. Heute wissen wir, dass diese drei Männer, so wie mindestens sieben andere Menschen, Opfer der rassistischen Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gewesen sind. Die Wut im Stadtteil ist groß. Besonders, weil sich all die Jahre niemand um Aufklärung bemüht hat. Ich will wissen, wie andere Jugendliche darüber denken und laufe deswegen weiter ins Jugendhaus, das nur ein  paar 100 Meter entfernt ist.

Das Jugendhaus „Quibble“ ist sehr groß und hat von einer Sporthalle bis zu einem Mädchenzimmer wirklich alles. Für Jugendliche gibt es hier ein breites Angebot an Freizeitaktivitäten.

Ich frage die Jugendlichen, wie sie ihren Stadtteil finden. Ich glaube das passiert viel zu selten, dass die Menschen hier selbst mal gefragt werden. „Mir gefällt es hier sehr. Egal welcher Nationalität man hier angehört, irgendwie ist trotzdem alles gemischt“, meint Emre. Auf die Morde angesprochen sind auch die Jungs erschüttert: „Ich finde es sehr traurig, da ich einen von denen kannte. Den Ismail. Ich verstehe nicht, wie Menschen so etwas tun können“, erzählt Steffan.

Ich gehe hoch zum Kicker und treffe zwei weitere Jungs, mit denen ich eine Wette eingehe. Wenn ich sie im Kicker besiege, bekomme ich ein Interview. Leider verliere ich 10 zu 3. Ist mir schon etwas peinlich, doch trotzdem sind die Jungs bereit sich mit mir zu unterhalten. Auch hier merke ich, dass die Mordserie nicht spurlos an den Jugendlichen vorbeigegangen ist. So meinen Yunus und Taulant: „Wir sind verunsichert. Nicht nur wegen uns, sondern auch wegen unseren Eltern. Zum Beispiel unsere Mütter könnten sich nicht verteidigen und so ein Nazi könnte kommen und ihnen wehtun“.

 

Ich verlasse das Jugendhaus. Heute habe ich wirklich zwei Dinge gemerkt. Der Schmerz der Geschehnisse sitzt hier noch tief, aber die Nürnberger Südstadt ist und bleibt wirklich bunt. Der Zusammenhalt ist, vielleicht auch wegen der schrecklichen Dinge, die hier passiert sind, nur stärker geworden. Zwar gibt es hier nur wenig Grünfläche und kaum Bäume und ist deshalb nicht einer dieser typischen schönen Stadtteile, aber auf seine eigene Art und Weise ist es trotzdem ein schöner Stadtteil.

 

„Wir halten zusammen“

Reinhold, Sozialpädagoge in einem Jugendhaus im Interview

 

Wie ist das Leben für die Jugendlichen in der Nürnberger Südstadt? Hier gibt es ja einen sehr großen Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Gibt es da irgendwelche markanten Unterschiede zu anderen Stadtteilen?

So pauschal kann man das nicht sagen. Im Prinzip sind die Jugendlichen hier genau so offen, wie in den anderen Stadtteilen auch. Man kann mit jedem reden. Es gibt in jedem Stadtteil Jugendliche, die Mist bauen. Genauso gibt es auch Jugendliche hier, die tolle Menschen sind.

Das Klischee „Südstadt-Jungs sind böse Jungs“ stimmt gar nicht.

 

Unweit von hier sind ja zwei Menschen Opfer der NSU geworden. Wie haben die Jugendlichen auf die NSU-Morde reagiert?

Ich erinnere mich noch ganz gut an Ismail. Eben der mit der Dönerbude, weil ich dort öfter eingekauft habe. Damals fand ich es erschütternd. Für die Jugendlichen war es damals gar nicht klar, was genau passiert ist. Es ging eher in eine ganz andere Richtung mit Schutzgeld und der Mafia (So war die Begründung der Polizei zu den Morden). Am meisten nervt es mich persönlich, was da eben alles für ein Mist geredet worden ist, wie der Verfassungsschutz selber mit drinnen steckt und das Verschwinden lassen von Unterlagen. Bei den Jugendlichen habe ich sehr wenig mitbekommen. Ich weiß nur, dass sie sehr entsetzt waren. Alle Jugendlichen fanden es wirklich schrecklich.

 

Du hast ja eben gemeint, dass du eines der NSU Opfer kanntest. Kannst du uns schildern, wie dieser Tag genau für dich abgelaufen ist, als du davon erfahren hast?

Ich war echt aufgebracht. Eine halbe Stunde, bevor es geschah, bin ich vorbeigelaufen und habe ihn begrüßt und später habe ich dann die schreckliche Nachricht erfahren. Es war wirklich komisch für mich.

 

Und wie war es später? Als herauskam, dass es die NSU war?
Ich war wirklich wütend, wie unser Staat versagt hat.

 

Was für Gefühle ruft der Prozess gegen Beate Zschäpe und die anderen NSU-Mitglieder hier im Stadtteil wach?
Es ist für jeden ein komisches Gefühl. Jeder will natürlich, dass alles aufgeklärt wird. Die Jugendlichen interessiert es nicht wirklich so sehr.

Das liegt auch bestimmt daran, dass sie sich mehr auf ihre eigenen Probleme konzentrieren müssen. Was sind denn deiner Meinung nach die größten Probleme der Familien hier im Stadtteil?

Ich denke, das Schulsystem ist eines der größten Probleme hier. Eben, weil es so viel Benachteiligung hier gibt. Dazu kommen dann noch die schlechten sozialen Verhältnisse.

Wie ist der Zusammenhalt zwischen den Menschen in der Südstadt?

Ich persönlich bin seit 25 Jahren hier. Früher hatten wir so einzelne Cliquen. Deutsche hatten eine, die Türken hatten eine. Sie haben sich untereinander nicht so gemocht. Das gibt es heute nicht mehr. Es ist jetzt alles gemischt. Viel interkultureller, also wirklich bunt. Sie halten sehr eng zusammen und helfen sich, wo sie nur können.

 

Was macht ihr, um den Jugendlichen Perspektiven zu zeigen?

Wir helfen den Jugendlichen, wo wir nur können. Wir sind wie ältere Brüder und Schwestern. Hier im Stadtteil halten wir zusammen.

 

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