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Die Park-Foren diskutieren über den weiteren Fortgang des Kampfes

tuzla-forum 

Verschiedene Aktionen mit Bezug zum Gezi-Park, aber auch die Gewalt der Polizei (und teilweise von bewaffneten Mobs) gegen Aktivisten, Festnahmen und Verhaftungen von Protestierenden gehen weiter. Gleichzeitig finden in zahlreichen Parks Foren statt, auf denen die Teilnehmenden darüber diskutieren, wie der Kampf jetzt zu organisieren ist. In den Medien setzt man sich ununterbrochen mit der Klassenzugehörigkeit, dem Organisationsgrad und der Weltanschauung der Massen bei den Gezi-Park-Protesten auseinander und entwirft neue “Theorien” dazu. Manche politischen Kreise wollen keine Zeit mit derartigen Auseinandersetzungen verlieren und rufen die Teilnehmer der Proteste auf, ihrer Partei beizutreten.

Da diese “routinemäßigen” Vorschläge bei der großen Mehrheit keinen nennenswerten Anklang finden, kann man sie getrost unberücksichtigt lassen. Dass liberal-anarchistische Kreise heute in einem Dilemma stecken, ist aber auch nicht von der Hand zu weisen. Von Anfang an der Proteste machten sie sich an die Arbeit, um “neue Theorien” zu entwickeln, und bezeichneten die Protestierenden als “unorganisierte Kreise ohne jeglichen ideologischen und politischen Standpunkt”*. Mit solchen Schlussfolgerungen versuchten sie, eine Grundlage für ihre Vorstellung von einem Ideologie- und politikfreien sowie unorganisierten Kampf zu entwickeln und begaben sich damit in Widerspruch mit den Entwicklungen.

 

Schwächen und Stärken des Widerstands

In der Tat ist es eine Stärke des Gezi-Widerstands, dass sich unorganisierte Massen, die sich nicht irgendwelchen ideologisch-politischen Zusammenhängen verbunden fühlen, trotz der Repressionen und Polizeigewalt gegen die Interventionen der Regierung in die Privatsphäre gewehrt haben, und sich dabei nicht irgendwelchen Gruppen- und Fraktionszwängen oder Sektierertümeleien unterstellen. Dies war allerdings nur für den Beginn der Proteste vorteilhaft. Wenn der Kampf beharrlich ein Ziel verfolgen sollte (so war es auch), war diese anfängliche Stärke gleichzeitig auch eine seiner größten Schwächen. Hinzu kommt, dass das Fehlen von “Organisiertheit” und “politischen Zielen” hinnehmbar wäre, wenn man auch akzeptiert, dass der Kampf nicht über Proteste hinausgeht. Wenn man jedoch den Kampf über Proteste hinaustragen und zu einem Bestandteil des Kampfes für eine demokratische Türkei weiterentwickeln wollte, ist es offensichtlich, dass die Teilnehmenden trotz ihrer ideologischen Differenzen unter politischen Aspekten um die Forderung nach Demokratie zu vereinen sind.

 

Eine Front für Demokratie erforderlich

Deshalb ist es heute lebenswichtig, eine Front unterschiedlicher politischer Kreise für Demokratie zu bilden, die unter dem Einfluss unterschiedlicher Ideologien sind. Sie wäre  der Ausdruck einer politischen Haltung, die bestrebt ist, die Einheit eines breiten Spektrums für einen gemeinsamen Kampf um Demokratie zu schaffen und dabei die Vorteile eines Einsatzes für gemeinsame Ziele bewahrt. So sehen wir heute, dass auf den “Park-Foren” über die Frage “Wie geht es weiter mit dem Kampf?” diskutiert wird. Mehr noch: es wird konkret über die Frage diskutiert, “Welche Taktik müssen die Gezi-Plattformen bei den bevorstehenden Kommunalwahlen verfolgen und wie können sie ihre Kräfte bündeln?

 

Die Park-Foren und das Organisieren von Jugend

Zweifellos diskutiert man auf den Park-Foren über wichtige Themen. Wenn man berücksichtigt, dass während des Kampfes insbesondere Jugendliche und Frauen als die dynamischsten und größten Gruppen hervortraten, werfen sich folgende Fragen zu den diskutierten Themen auf:

1- An Gymnasien: Sollten im neuen Schuljahr nicht auf Park-Foren gewählte Kandidaten bei den Schulsprecherwahlen kandidieren, um die Oberschüler zu organisieren? Und sollten hier nicht die dringlichsten Forderungen der Jugend als wichtiges Thema auf der Agenda der Foren in den Vordergrund gerückt werden?

2- An Hochschulen und Universitäten:  An den Foren beteiligen sich viele Studierende. Sollten die Foren nicht als Grundlage für die Schaffung ihres gemeinsamen Vorgehens an  den Unis dienen, damit die Studierendenvertretungen zu wahren Vertretungen für die Interessen der Studierenden ausgebaut werden? Können nicht auf diesem Wege Massenorganisationen der Studierenden geschaffen werden? Sollten auf Park-Foren nicht auch diese Fragen thematisiert werden?

3- Arbeiterjugend bei lokalen Aktionen: Auszubildende, junge Arbeiter und Arbeitslose beteiligten sich massenhaft an den Aktionen. Sollten die Park-Foren die Frage, wie man sie unter Berücksichtigung der stadtteilspezifischen Aspekte organisieren kann, auf ihre Tagesordnung setzen?

 

Eine Stütze, um auch Frauen zu organisieren

Die Frage, wie man Frauen organisieren kann, sollte auf den Park-Foren einen viel größeren Platz haben. Sicherlich sollten auch bei dieser Frage stadtteilspezifische Aspekte berücksichtigen werden. Allerdings sollten die Park-Foren die sich bietende Chance zum Organisieren von Frauen, die an dem großen Widerstand teilnahmen, ergreifen und neue Wege für die Gründung von Initiativen, Vereinen etc. von Frauen finden, in denen sie sich für die Durchsetzung ihrer eigenen Forderungen engagieren können. Nur so können sie die Frage beantworten: “Wie weiter mit dem Kampf?

 

Kommunalwahlen können eine wichtige Rolle spielen.

In Verknüpfung mit solchen Intitiativen können bevorstehende Kommunalwahlen, bei denen Hunderttausende von Kommunalpolitikern gewählt werden, ein Meilenstein sein. Die Park-Foren könnten die Grundlage dazu bieten, mit gemeinsam gewählten Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl anzutreten und die Kräfte demokratischer Kreise zu bündeln. Wenn gemeinsame Kandidatinnen und Kandidaten auf dem Wege solcher “Vorwahlen” auf Park-Foren bestimmt werden, kann keine Partei oder Gruppe ihre eigenen Kandidaten aufzwingen.

 

Verfassung, Laiszismus und die Lösung der kurdischen Frage

Nach dem Gezi-Widerstand wird die Debatte über die neue Verfassung nicht mehr als eine Debatte geführt, an der lediglich die im Parlament vertretenen Parteien beteiligt sind. Und die neue Verfassung wird nicht ein Gesetzestext sein, auf den sich ihre Parlamentsfraktionen geeinigt haben.

Wenn man insbesondere bedenkt, dass im Gezi-Widerstand die Befürworter der Glaubensfreiheit, angeführt von Laiszisten und Aleviten, ihre diesbezüglichen Forderungen mit ihrem Protest gegen die Interventionen der Regierung in das Privatleben zusammenführten, wird es nicht mehr möglich sein, die Diskussionen um den Laiszismus in ihre früheren engen Grenzen zurückzudrängen. Oder kann man denn davon ausgehen, dass die gesellschaftliche Mehrheit von ihrer Forderung nach einer tatsächlichen Trennung von “Religion und Staat” und somit nach einem Laiszismus ohne Diyanet (Staatliche Religionsbehörde) zurückweicht?

Kann denn heute auf den Park-Foren die kurdische Frage ausgeklammert werden? Können es sich die Foren angesichts der Hinhaltetaktik der Regierung in dem laufenden “Lösungsprozess” leisten, sich in der kurdischen Frage ins Schweigen zu verhüllen, ohne den Kampf um Demokratie zu schädigen? Waren die auf Foren beschlossenen Proteste gegen die Ermordung eines kurdischen Demonstranten in Lice nicht Ausdruck einer Haltung, die sich dem Ausklammern dieser Frage widersetzt?

 

Der Gezi-Widerstand darf seine Spezifik nicht verlieren

Wenn man bedenkt, dass in den nächsten zwei Jahren drei Wahlen stattfinden werden, wird deutlich, dass die demokratischen Kräfte unseres Landes vor der wichtigen Aufgabe stehen, einen Kampf für eine demokratische Türkei zu führen, der viele demokratische Forderungen umfasst. Die Kräfte, die der Gezi-Widerstand hervorgebracht hat, und die Park-Foren bieten in dieser Hinsicht eine wichtige Gelegenheit. Es ist äußerst wichtig, diese Chance nicht zu verspielen und die durch den Widerstand hervorgebrachten Kräfte bei ihrer Entwicklung zu einem aktiven Bestandteil der Demokratie-Front zu unterstützen. Denn diese Foren sind eine starke und wichtige Stütze, um Volksmassen zum Kampf um Demokratie zu gewinnen. Jeder ist aufgerufen, sie bei ihrer Entwicklung zu unterstützen, ohne dass sie ihre spezifischen Charakteristika verlieren.

 

İHSAN ÇARALAN

 

(*) Dies trifft vielleicht am stärksten auf die Jugendlichen zu, und eventuell auch auf einen Teil der “Angehörigen der Mittelschicht” in den Großstädten. Allerdings äußern sich “Unorganisiert-Sein” und das “Fehlen politischen Standpunkten” aus Sicht der Mehrheit darin, dass sie nicht einer gemeinsamen Organisation angehören und auch nicht einer gemeinsamen Politik verbunden fühlen. Ein Großteil der Anführer war und ist organisiert und vertritt einen politischen Standpunkt. Ohne diese Differenzierung sind die entwickelten Theorien zum Scheitern verurteilt.

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