Written by 08:00 HABERLER

Die politische und religiöse Krise der AKP

Hasan Aslan

Der Chef des „Präsidiums für religiöse Angelegenheiten“ (türkisch: Diyanet Isleri Baskanligi), Ali Erbas, hat in den letzten Tagen mit seinen Äußerungen sogar den Präsident Erdogan mehrfach überboten. Er hatte zusammen mit dem Präsidenten und dem Vorsitzenden des Kassationshofes, einem der obersten Gerichte der Türkei das neue Gerichtsjahr mit einem Gebet eröffnet. Kritiker und Laizisten hatten daraufhin gefordert, dass die Religion aus der Judikativen herausgehalten werden soll und befürchten, dass der laizistische Grundsatz der Türkei angegriffen wird. Erbas erklärte daraufhin: „Die wollen nicht, dass der Glaube sich auf die Gerechtigkeit und das Urteil auswirkt und hetzen gegen den Glauben auf!“ Seitdem hagelt es Kritik seitens der Opposition.

Das Diyanet ist eine staatliche Einrichtung zur Organisation und Verwaltung religiöser Angelegenheiten in der Türkei und ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Die Behörde hatte im Jahre 2020 etwa 130000 Mitarbeiter und 2021 einen Jahresetat von etwa 13 Milliarden Türkische Lira, umgerechnet ca. 1,3 Milliarden Euro und somit mehr als das Budget von 7 Ministerien.

„Das Überbieten“ des Präsidenten kommt nicht nur durch die Brisanz seiner Worte, sondern auch durch seine täglich neuen Erklärungen und Deutungen. Erbas ist direkt Erdogan unterstellt und erklärt natürlich nichts ohne Absegnung seines Bosses.  Aber wie lange noch und wie weit wird Erdogan Erbas bei diesem sensiblen Thema von der Leine lassen? Noch kann er sich dessen Unterstützung sicher sein. Auch die direkte und offene Unterstützung des Vorsitzenden Bahceli des Koalitionspartners MHP (Nationale Bewegungspartei) hat Erbas noch sicher.

In einer schriftlichen Erklärung bot  der MHP-Führer Erbas seine volle Unterstützung an.  Er kritisierte alle scharf, die die Eröffnung des Gerichtsjahres mit einem Gebet kritisch beurteilten. In der Erklärung heißt es: „Es ist buchstäblich primitiv, dass das Gebet, das vom Leiter der religiösen Angelegenheiten gelesen wird, in einigen Kreisen auf heftige Reaktion stößt. Die Türkei ist ein muslimisches Land. Der Leiter der religiösen Angelegenheiten, Herr Ali Erbas, tat das Richtige. Und unsere Unterstützung ist vollständig“. 

Damit hat Bahceli die Unruhen unter den eigenen Anhängern und leise Kritik aus Reihen der AKP-Anhänger unmittelbar unterbunden, die eventuell einen Schaden in den Reihen der „Republikanischen Allianz“ hätten verursachen können. Die Republikanische Allianz wird das Bündnis aus AKP und MHP genannt, die die Säulen des Machtes des Präsidenten bilden.

Es gab, wenn auch nur wenige Einwände aus den Reihen der Unterstützer des Palastes (Erdogans Regierungssitz ist ein prachtvoller Palast mit 1000 Zimmern) gegen die Eröffnung des Gerichtsjahres mit einem Gebet.

Der Vorsitzende der Heimatpartei (Vatan Partisi), Dogu Perinçek, der bisher jede Gelegenheit nutzte, Erdogan zu unterstützen, erklärte: „Die Justiz (Das Gerichtsjahr) mit Gebet zu öffnen, ist ein sehr klarer Missbrauch der Religion.“ Doch Perinçek ging mit seiner Kritik nicht so weit und nahm Erdogan heraus. Er erklärte, Erdogan sei von seiner Umgebung in die Irre geführt worden, sonst würde er solche Fehler nicht dulden!

JUGEND SOLL RÜCKWÄRTSGEWANDT WERDEN

Erbas ließ sich nicht von Perinçeks Kritik aus der Ruhe bringen und verstärkt auch durch Bahcelis Schulterschluss, setzte er bei verschiedenen Anlässen noch eins drauf. Bei der Eröffnung des „2. Jugendworkshops“ in Ankara beispielsweise erklärte er; „Mit den globalen und sozialen Entwicklungen wachsen die Probleme der Jugend von Tag zu Tag. Die Individualität, die Weltlichkeit, das virtuelle Leben, die Populärkultur und das soziale Leben mit all seinen Bedeutungen beeinflusst die Jugend von allen Seiten. Es gibt eine Interaktion, die den jungen Menschen vergessen lässt, dass er ein Diener ist! Es gibt einen enormen Werteverlust und eine Krise der Zivilisation.“

Auf den ersten Blick könnte diese Kritik gegen die kapitalistische Lebensweise verstanden werden. Doch bei Erbas, genau wie auch bei IS, Al-Qaida oder Taliban, überwindet diese Haltung nicht die Probleme der modernen Zeit, indem sie den Kapitalismus angreift, sondern sie alle versuchen, zu mittelalterlichen Werten zurück zu kehren. Dies bedeutet eine Rückkehr von der Ebene mündiger und freier Bürger auf die Ebene ein Diener zu werden. Erbas fordert die Jugend auf, in den Modus „Diener“ überzugehen.

KRISE DES SYSTEMS IN RELIGION KANALISIEREN

Natürlich appelliert Erbas nicht nur; er will auch Maßnahmen ergreifen, um „die Werte des digitalen Zeitalters aufzugeben“, wie Zensur in sozialen Medien, radikale Maßnahmen gegen die Religionsunabhängigkeit der Bildung und Fortsetzung der Initiativen zur Regulierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens im Einklang mit religiösen Werten.

Erbas zielt auf die Jugend, er zieht Lehren aus dem Versagen der 20-jährigen AKP-Regierung, religiöse Potentiale nicht genug aufgesaugt und Religionskritiker nicht ausreichend repressiven Kräften ausgesetzt zu haben, um eine „religiöse Generation zu erziehen“ und auch „intellektuelle Deutungshoheit des Alltags“ zu erreichen. Deshalb werden unter seiner Führung religiöse Sekten und salafistische Kräfte massiv unterstützt und die Politik terrorisiert. Das Diyanet versucht, diesen religiös-reaktionären Umtrieben Legitimität zu verleihen, um die Tür zu Schulen für religiöse Sekten zu öffnen und eine effektive Zusammenarbeit von Sekten und salafistischen Organisationen als Partner des „Ministeriums der nationalen Bildung“ zu ermöglichen und Jugendliche zu Dienern der Sache zu machen.

Die Offenlegung der versteckten Agenda der AKP und die Ziele der Regierung bieten den demokratischen Kräften enorme Möglichkeiten, das wahre Gesicht der Erdogan-Regierung zu entlarven. Wenn die demokratischen Kräfte ihren Teil richtigmachen.

In solchen Zeiten, in der die Macht von innen allmählich zerbröckelt, hat die Gemeinschaft, zu der auch Erbaş gehört, nicht mehr viele Möglichkeiten. Sie brauchen noch eine Kommunikationsform, in der Regellosigkeit, Gesetzlosigkeit und Willkür als Update zu Fiqh/Religion verpackt werden. Während ein Teil der Bevölkerung ihre Aufmerksamkeit auf das richtet, was der Präsident der Diyanet gesagt oder nicht gesagt hat, ist die Schärfung der religiösen Gefühle der übrigen „Gläubigen“ jetzt eine Erholungstaktik. Erholung natürlich, um das repressive Regime zu retten, das seine Legitimität nicht aus sich selbst, sondern aus der Aktualisierung des Fiqh bezieht.

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