Written by 12:00 DEUTSCH

Die Regierung ist im Krisenmodus

Oktay Demirel

Alle Koalitionspartner beteuern, dass es nicht zu vorgezogenen Bundestagswahlen kommen soll. Aber alle geben ihr Bestes dafür, die Risse der Ampelkoalition zu vergrößern und die Gräben zu vertiefen. Opposition wie Regierung haben auf Wahlkampfmodus geschaltet und wir befinden uns mitten in einer politischen Krise. Da kann es ja nur folgerichtig sein, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht und es zwei Wirtschaftsgipfel gibt: den einen organisierte der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) höchstpersönlich mit Vertretern der Industrie, den anderen der Finanzminister Christian Lindner (FDP) mit Wirtschaftsvertretern überwiegend aus dem Mittelstand. Und der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erschien zu keiner der beiden Veranstaltungen, „da Wirtschaftsgipfel sowieso mein Alltag sind“, so seine Begründung. Alle versuchen, ihre eigenen Konturen deutlich hervorzuheben und Kompetenzen für sich zu beanspruchen.

Doch die Diskussionen über die Stagnation der Wirtschaft, Insolvenzen, Entlassungen und steigende Lebenshaltungskosten werden von Tag zu Tag hitziger. Ende Oktober hatten Manager und Gewerkschaftsvertreter erklärt, dass der größte europäische Autokonzern Volkswagen drei Werke schließen und zehntausende Kolleginnen und Kollegen entlassen wird und einen gesellschaftlichen Aufschrei erzeugt. Deutlich wurde: Es fehlt überall an Innovation, Investition und Wohlstand für die Mehrheit der Bevölkerung.

Die deutsche Wirtschaft, die einst stärker wuchs, als die der meisten europäischen Länder, erlebt seit mindestens zwei Jahren einen Stillstand. Ein Grund ist der Wirtschaftskrieg gegen Russland. Denn vom billigen russischen Gas hatten vor allem deutsche Konzerne profitiert und sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber europäischen Konkurrenten gesichert.

So wurde selbst das Wachstum von 0,2 Prozent im dritten Quartal dieses Jahres, das das Statistische Bundesamt vor wenigen Wochen verkündete, von der Presse mit Jubel aufgenommen. Die deutsche Wirtschaft war zuletzt im dritten Quartal 2022 um 0,6 Prozent gewachsen und seitdem geschrumpft oder stagniert. Es gibt weder Hoffnung noch Indizien, die darauf hindeuten, dass sich dieses Bild kurzfristig und langanhaltend ändern wird. Nach den Prognosen des IWF werden die USA in diesem Jahr um 2,8 Prozent und die Eurozone um 0,8 Prozent wachsen. Im kommenden Jahr soll das Wachstum in den USA auf 2,2 Prozent zurückgehen, während es in der Eurozone auf 1,2 Prozent steigen soll. Für Deutschland wird für das Jahr 2025 ein Wachstum von 0,8 Prozent prognostiziert, daran glauben tut keiner. Die Regierungsparteien wissen das und versuchen vorzugeben, dass sie die Kompetenz hätten, darauf einzuwirken. Jedoch verschärft diese Krise auch die Interessenskonflikte verschiedener Kapitalgruppen und -fraktionen, die sich in einigen Aspekten diametral entgegengesetzt stehen.

Armut und Verelendung in Deutschland

Während SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz am Dienstag einen „Industriegipfel“ mit Vertretern der Monopole und der Gewerkschaften veranstaltete, organisierte FDP-Finanzminister Christian Lindner einen „Mittelstandsgipfel“, wie es in der deutschen Presse angedeutet wurde, quasi als Trotzreaktion. Dem vermittelten Bild und den gesagten Worten nach zu urteilen, scheint Scholz der Vertreter des deutschen Monopolkapitals und Lindner der Vertreter des mittelständischen Kapitals zu sein. Dass dem aber nicht so ist, ist allgemein bekannt. Dem Kapital ist es egal, welche Koalition regiert, Hauptsache, ihr werden alle Möglichkeiten gegeben, noch mehr Profit zu erwirtschaften. Da sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den letzten Jahren verschlechtert und sich die Widersprüche zwischen den Klassen vertieft haben, versucht jede Kapitalgruppe und jede Schicht nun, eine eigene Politik durchzusetzen, die ihren eigenen Interessen Vorrang einräumt.

Wer denkt, dass der Staat über den Klassen steht und lediglich für ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Interessen sorgt, irrt sich gewaltig. Der bürgerliche Staat steht für den Erhalt des Systems und ist lediglich in der Umsetzung variabel, mal autoritär mit einer neoliberalen oder autarken „starken Hand“, mal sozialliberal und in Zukunft vielleicht sogar national-aggressiv mit einer AfD-Beteiligung, aber im Kern dient er immer einer herrschenden Klasse und setzt die Interessen von Kapitalfraktionen durch.

LINDNERS BRUCH MIT DER AMPEL

Und das, was wir sehen, ist der Bruch dieser Kapitalfraktionen. Die FDP begnügte sich nicht nur mit einem „Alternativgipfel“, sondern drohte sogar zwischen den Zeilen mit vorgezogenen Neuwahlen. Lindner veröffentlichte ein 18-seitiges Papier, in dem er seine neoliberalen und arbeiterfeindlichen Wirtschaftsforderungen aufzählte. Ihm geht es darum, seine Partei, die bei Umfragen z.Zt. bei 4 % liegt, als Vertreter des mittelständischen Kapitals zu verorten und einen Anteil am Kuchen zu beanspruchen. Laut Handelsblatt wird die FDP mit ähnlichen „alternativen“ Manövern weiter versuchen, die Koalition zu sprengen und den Weg für vorgezogene Neuwahlen freizumachen. Dabei sieht es schöner aus, wenn man verjagt wird, als selber zu gehen. So kann man sich als den Rebellen darstellen, der den falschen Weg aufhalten wollte und seine Hände reinwaschen. Der Herbst werde daher zur „Zeit der Entscheidungen“ lautet es aus Regierungskreisen. Auf der anderen Seite wissen die Liberalen, dass die Zeit für Neuwahlen noch nicht gekommen ist und die FDP möchte mit Lindners Vorstoß zunächst noch Kräfte sammeln, sonst, so auch manch ein Vertreter der Partei, würde man „politischen Selbstmord begehen“.

VERTRETER DES KAPITALS DROHEN MIT ABWANDERUNG

Natürlich war die schlechte Wirtschaftslage der Anlass für die Gipfel. Laut einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) unter 25.000 Unternehmen beurteilen 31 Prozent die Lage als schlecht. In einer weiteren Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte in der Automobil-, Maschinen- und Chemieindustrie, den Kernbranchen der Wirtschaft, planen derzeit 74 Prozent der Unternehmen Investitionen in Deutschland. In den nächsten fünf Jahren wird dieser Wert jedoch auf 54 Prozent sinken. Das bedeutet, dass weitere 20 Prozent der Unternehmen ihre Investitionen ins Ausland verlagern wollen. „Wir brauchen dringend eine Politik, die Investitionen nach Deutschland holt“, sagte Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), nach einem Treffen mit Scholz. Dazu gehöre die Öffnung staatlicher Fördertöpfe für Monopole. Mehr Subventionen, billige Energie und niedrige Löhne bzw. Lohnnebenkosten stehen ganz oben auf der Forderungsliste. Um Deutschland wieder zu einem „Standort“ zu machen, werden die Monopole weiterhin Bedingungen auflisten, die neue Angriffe auf die Arbeiterklasse beinhalten. Eine Erhöhung der Kaufkraft der Menschen durch höhere Löhne, um die produzierten Waren zu verkaufen oder eine Senkung der Preise zur Anregung von Konsum, stehen nicht auf der Tagesordnung. Die Automobilmonopole drohen auch damit, dass innerhalb von zehn Jahren 140.000 Arbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren werden, wenn nicht die notwendigen Schritte zur Stärkung ihrer Position unternommen würden. Dabei muss jedoch auch deutlich gemacht werden, dass das Bild, das Unternehmen, wie VW, in der Öffentlichkeit zeichnen, nicht der Realität entspricht. Denn mit den „Verlusten“, von denen ständig gesprochen wird, ist in der Realität der Verlust am Gewinn gemeint. Die Unternehmen machen nach wie vor ein deutliches Plusgeschäft. Nur ist die Gewinnmarge niedriger, als zuvor. Die Tatsache, dass das einstige „Wirtschaftswunder“ trotz der Subventionen, Förderungen, juristischen und gesetzlichen Vorteile stark abgenommen hat, wird an der kapitalistischen Front kaum diskutiert. Es liegt in der Natur des Kapitalismus, dass unter den Bedingungen eines harten Konkurrenzkampfes der Monopole die einen gewinnen und die anderen verlieren. Deutschland gehört zu den Verlierern in diesem Prozess, weil es nicht nur einen, sondern gleich mehrere Fehler gemacht hat. Einer der Hauptfehler war die nahezu direkte Beteiligung am Krieg in der Ukraine, der Verzicht auf billige Energielieferungen aus Russland und der Kauf teurerer Energie aus den USA. Die Hauptschwächen der deutschen Wirtschaft sind niedrige Reallöhne, die zu einem großen Anteil von hohen Mieten verschlungen werden, wachsende Armut (vor allem auch im Alter und trotz Arbeit wegen Minijobs), eine schwerfällige Bürokratie, unzureichende Investitionen in die Infrastruktur, die fehlende Anpassung an das digitale Zeitalter in einigen Bereichen. In den letzten Jahren ist noch ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften hinzugekommen. Und das Defizit wird auch im nächsten Jahrzehnt das Problem sein.

Close