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Die Schuldenfalle

Nilgün TUNÇCAN ONGAN
Vor wenigen Tagen erklärte der AKP-Abgeordnete Mahir Ünal, die Wähler würden sich bei den Wahlen für seine Partei entscheiden, auch wenn die Oppositionsparteien laut Umfragen zulegten. Seine Zuversicht begründete er damit, dass die Wähler, die unter einer schweren Schuldenlast zu leiden hätten, sich für „politische Stabilität“ entscheiden würden.
Dass dieses Verhältnis, auf das wir immer wieder hinweisen, von einem AKP-Abgeordneten offen zugegeben wird, ist sehr wichtig. Denn es macht das Abhängigkeitsverhältnis deutlich, in das die Bevölkerung in der 13-jährigen Regierungszeit der AKP durch Verarmung gezwungen wurde.
So wird aufs Neue bestätigt, dass die Armut nicht die unvermeidbare Folge einer Wirtschaftspolitik ist. Vielmehr ist sie das Ergebnis der bewussten und systematischen Entscheidung einer Politik, die auf politische Gewinne ausgerichtet ist.
Die AKP-Regierung hat sämtliche Aspekte eines Sozialstaates abgeschliffen und sich dafür entschieden, die Binnennachfrage nicht durch eine relative Einkommensgerechtigkeit, sondern durch die weitere Verschuldung der Bevölkerung zu stärken. Zu Beginn ihrer Regierungszeit im Jahre 2002 betrug die Quote der Verschuldung zum Bruttoinlandsprodukt 1,8 Prozent und stieg im letzten Jahr auf über 20 Prozent. Mehr als die Hälfte des Einkommens der Haushalte, nämlich 55 Prozent, wird für die Tilgung der Schulden ausgegeben. In den letzten 12 Jahren stieg das Volumen der Verbraucherkredite um das 141-Fache, und die Schulden auf Kreditkarten um das 17-Fache. Die Lohnabhängigen bilden mehr als die Hälfte der Schuldner bei den Kreditkarten.
Diese Zahlen machen deutlich, wie tief die Bevölkerung in der Schuldenkrise steckt. Und sie zeigen, dass die Bevölkerung sich in den letzten 13 Jahren nicht etwa aus Sorge um die „politische Stabilität“ für die AKP entschied. Vielmehr trafen sie diese Entscheidung, weil man ihr permanent mit dieser Schuldenlast gedroht hat. Diese Feststellung wird auch durch wissenschaftliche Studien bestätigt. Sie zeigen, dass die Bevölkerung ihr Heil in der „Stabilität“ des Systems sucht, weil sie in der Schuldenfalle steckt. Ob das kleine Häuschen oder der neue Wagen, ob das Handy oder die neue Kleidung, alles wird auf Kredit gekauft. Deshalb sehen sich die Armen dazu gezwungen, sich für die Fortsetzung des bestehenden Systems zu entscheiden – genau so wie ihre gegnerische Klasse.
Auf der anderen Seite erleichtern die Verbote und Hindernisse, die der politischen Aufklärungsarbeit und dem Klassenkampf auferlegt werden, die Aufdeckung dieser Funktionsweise zu verhindern. In dieser Hinsicht ist der 1. Mai 2015 genauso wichtig wie die Wahlen am 7. Juni. Der einzige Weg für die Beseitigung aller Hindernisse durch die Arbeiterklasse besteht darin, dass sie ihre Forderungen, die sie am 1. Mai artikuliert hat, mit den Forderungen aller Unterdrückten zusammenführt und dass sie ihren Klassenkampf mit dem Kampf um Demokratie verbindet und somit vor und bei den Wahlen Farbe bekennt.

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