Written by 10:49 TÜRKEI

Die Türkei hat gewählt

Am Morgen des 14. Mai wurden in den 81 Provinzen der Türkei alle 191.885 Wahlurnen im Land geöffnet und ab 17 Uhr Ortszeit geschlossen. 60,6 Millionen Wahlberechtigte im Inland und 3 Millionen im Ausland waren aufgefordert, in zwei Wahlen den Präsidenten und das Parlament zu wählen. Das Interesse an den Wahlen war hoch, ca. 55 Millionen Stimmen wurden abgegeben (etwa 88 Prozent Wahlbeteiligung), davon über 1 Million ungültige Stimmen. Über 8 Millionen Wahlberechtigte gingen nicht zur Wahl. Von den gültig gezählten Stimmen, votierten 49,5 Prozent für den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sein Herausforderer, Kemal Kılıçdaroğlu, konnte bei diesem Wahldurchgang 44,89 Prozent auf sich vereinen. Die anderen beiden Kandidaten erzielten zusammen ca. 5 Millionen Stimmen. Somit konnte keiner der Präsidentschaftskandidaten die notwendigen 50 Prozent erreichen und es wird am 28. Mai zu einer Stichwahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu kommen, wobei die ca. 5 Million Stimmen der beiden anderen Kandidaten entscheidend sein werden. Erdoğan, wie auch sein Herausforderer Kılıçdaroğlu, müssen 2 Wochen noch zittern, denn so eindeutig sind die Erwartungen nicht. Es kommt jetzt darauf an, ob Kılıçdaroğlu die Nichtwähler mobilisieren kann und die Stimmen der Ultranationalisten bekommt.

Bei den Parlamentswahlen verlor Erdoğans AKP um 7 Prozentpunkte, wurde aber dennoch stärkste Partei. Die CHP nahm um 2,6 Prozentpunkte zu und wurde zweitstärkste Partei. Die kleineren Bündnisparteien beider Bündnisse konnten ihre Anteile in etwa halten. Somit hat das Erdoğan-Bündnis mehr Abgeordnete im türkischen Parlament.

AKP-Wahlbeobachter verzögern die Auszählung

Die Stimmauszählung verzögerte sich extrem und es wurden widersprüchliche Hochrechnungen von den beiden Agenturen veröffentlicht. Die Opposition warf der staatlichen Anadolu Agentur Wahlverzögerung und Manipulation vor, weil sie zunächst die Urnen berücksichtigte, aus denen Erdoğan als Sieger hervorging und so nach und nach die von dem Gegenkandidaten dominierten Urnen in die Gesamtrechnung aufnahm. AKP-Wahlbeobachter legten vor allem bei Kılıçdaroğlu-dominierten Urnen Widerspruch ein und bewirkten somit eine x-fache erneute Auszählung der Urnen, damit sie nicht ins System übernommen werden konnten. Bei früheren Wahlen designierten oppositionelle oder unabhängige Wahlbeobachter bei dieser Taktik und verließen die Urnen und öffneten damit den Weg für Wahlmanipulationen. Erdoğan, der bei der ersten Hochrechnung mit ca. 60 % anfing, endete am Ende bei 49,5%, während Kılıçdaroğlu von 34 % auf 45 % hochkletterte.

Die prominenten Persönlichkeiten der Oppositionsallianzen und führende politische Sprecher, wie z.B. auch die beiden Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu und Ankara, Mansur Yavaş sowie die Sprecher der sozialistisch-kurdischen Opposition Yeşil-Sol (Grün-Linke Partei) des Wahlbündnisses für Arbeit und Freiheit, riefen über diverse Social Media Kanäle mehrmalig dazu auf, dran zu bleiben und bis zum bitteren Ende die Stimmzettel sicher und unversehrt in den Büros des Hohen Wahlvorstands (YSK) abzugeben.

Erdoğans Abwahl war nie so greifbar wie jetzt

Die sehr hohe Inflation, der Kaufkraftverlust und Teuerung, Korruption in allen Ebenen sowie Erdbeben-Missmanagement haben im letzten halben Jahr die Türkei stark zerrüttet. Erdoğans Einfluss bröckelte und nahm ab. Daher waren sich viele einig darüber, dass es recht knapp werden und es zu einer Stichwahl kommen könnte. Nun steht das Land weiterhin vor der Zerreißprobe und ist in zwei ähnlich große Pole geteilt. Die Nerven sind strapaziert, die Hoffnung kämpft und für viele scheint dies die letzte Möglichkeit zu sein, Erdoğan noch irgendwie loswerden zu können.

Die HDP, die mit einem Verbot konfrontiert ist und deswegen wahltaktisch auf den Listen der Grün-Linken Partei antrat, hat sich an ihr Versprechen gehalten, dass sie – ohne jegliche Zugeständnisse, nur der Demokratisierung, dem Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Herstellung von Menschenrechten und der großen Sehnsucht nach dem Ende des Ein-Mann-Regimes zuliebe – die Präsidentschaft den bürgerlichen Herausforderer Kılıçdaroğlu unterstützen werde. In den kurdischen Hochburgen war die Zustimmung für die Kılıçdaroğlu sehr hoch. Es ist diese Kooperation, die auch auf der Wahllandkarte der Türkei rot markiert ist und deutlich macht, dass mindestens 10 Prozent der Wahlstimmen für Kılıçdaroğlus Präsidentschaft genau von dort kommen.

Erdbeben-Gebiete wählen vermehrt Erdoğan

Erdoğans AKP hat hingegen gerade in den Provinzen, die vom Erdbeben betroffen und teilweise kurdisch dominiert sind, bemerkenswert hohe Stimmen erhalten. In absoluten Zahlen hat Erdoğans AKP jedoch an Stimmen verloren und liegt derzeit bei 35,58 Prozent (vgl. 2018: 42,56 Prozent), was als Reaktion auf die unzähligen Miseren im Land interpretiert werden kann.

Manche Analysten sprechen mittlerweile von einem „Erdoğanismus”, der über eine Basis verfügt, das sich allmählich zu einer ziemlich homogenisierten politischen Identität geformt hat, ein Phänomen, das sich auch unter der AKP und Erdoğan-Wählern im Ausland manifestiert. Der Patriarch, der auch auf der globalpolitischen Arena ab und an demonstrativ fest auf den Tisch haut und mit gehobenem Zeigefinger “Heeey Europa…” ruft, scheint seine Fans weiterhin groß zu imponieren.
Die Stichwahl am 28.05. wird entscheiden, ob der Zug für die Hinwendung zur Wiederaufnahme von Demokratisierungsprozessen sowie Wiederaufbau von Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung von Menschenrechten komplett abgefahren sein und sich sogar ein durch demokratische Wahlen legitimierter Autoritarismus durchsetzen wird.

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