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Die Wohnungskrise aus migrantischer und antirassistischer Perspektive: Ein historischer Abriss

Dilan Baran

Die Wohnungskrise in Deutschland ist ein Ergebnis des neoliberalisierten Wohnungs- und Arbeitsmarktes und konnte historisch über die rassistische Segregation von Migranten vorangetrieben und legitimiert werden. Ein Blick auf die historischen Entwicklungen und gegenwärtigen Herausforderungen zeigt, wie tief verwurzelt diese Problematik ist.

1950er und 1960er Jahre: Wirtschaftswunder und Anwerbeabkommen

In den 1950er und 1960er Jahren erlebte Deutschland ein Wirtschaftswunder, das zu einem hohen Bedarf an Arbeitskräften führte. Anwerbeabkommen mit verschiedenen Ländern, darunter Italien, Griechenland, Spanien, Türkei und später Jugoslawien, sollten diesen Bedarf decken. Diese „Gastarbeiter“ wurden jedoch in provisorischen Unterkünften wie Baracken, Heimen und Containern untergebracht. 4 Personen auf 15m2 waren keine Seltenheit. Diese Behausungen waren oft nicht nur temporär, sondern teilweise über zehn Jahre hinweg der Lebensmittelpunkt der Migranten. Man bemühte sich nicht um Sprachunterricht oder kulturelle und soziale Angebote, zudem gab es keine Mitbestimmungsrechte. Die Anwerbepolitik der 50er und 60er Jahre äußerte sich in einer räumlichen, ökonomischen, sprachlichen, kulturellen und rechtlichen Segregation der Einwanderer von der einheimischen Bevölkerung.

1970er Jahre: Anwerbestopp und Ölkrise

In den folgenden Jahrzehnten führten diese Bedingungen zu Arbeitskämpfen, in denen Migranten gleiche Löhne und bessere Arbeitsbedingungen forderten. Parallel dazu entwickelten sich soziale Kämpfe um menschenwürdigen Wohnraum und Mitbestimmung. Hausbesetzungen wurden dabei zu einem Mittel des Protests, in denen sich die damalige Häuserbesetzungsbewegung mit migrantischen Kämpfen zusammentat und die Frage nach sozialen Rechten von Migranten mit einbezog.

Der Anwerbestopp 1973 markierte einen Wendepunkt. Gleichzeitig führte die Ölkrise zu wirtschaftlichen Turbulenzen, die insbesondere die Migranten hart trafen. Die Arbeitslosigkeit stieg, aber die Rückführungsversuche der Regierung schlugen nicht an. Die Stimmung kippte, der Ton in Politik und Medien änderte sich schlagartig.

1980er Jahre: Asylbewerberheime und Abschreckungspolitik

Die 1980er Jahre waren geprägt von neoliberalen Wirtschaftspolitiken, die Privatisierungen und den Abbau sozialer Sicherungssysteme förderten. Diese Entwicklungen hatten auch Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt: Sozialwohnungen wurden privatisiert, und die Investitionen in den sozialen Wohnungsbau nahmen weiter ab. Migranten waren besonders betroffen, da sie oft in schlecht bezahlten und unsicheren Jobs arbeiteten und somit weniger Zugang zu gutem Wohnraum hatten. Die Asyleinwanderung nahm zu, insbesondere aus den ehemaligen Ostblock-Staaten, aber auch aus weit entfernten Konfliktregionen wie Eritrea, Äthiopien, Kongo. Diese neuen Migranten wurden häufig in Asylbewerberheimen untergebracht, was Teil einer „Abschreckungspolitik“ war, die durch Arbeitsverbote, Lebensmittelgutscheine und verschärfte Heimpflicht gekennzeichnet war.

1990er Jahre: Wiedervereinigung und Liberalisierung

Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 und der anschließenden wirtschaftlichen Umstrukturierung verstärkten sich die Probleme auf dem Wohnungsmarkt. Die Liberalisierung des Wohnungsmarktes führte zur Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit und zu umfangreichen Privatisierungen von Wohnraum, der nun profitabel bewirtschaftet wurde und zur aktuellen Wohnungskrise besonders stark beitrug. Mit der politischen Wende in den 1990er Jahren brach zudem eine Welle des rechten Terrors aus, besonders auffällig waren die zahlreichen Anschläge auf Häuser und Wohnheime von Migranten. Rassistische Stimmungsmache in Politik und Presse verschärfte sich, vor allem gegen Türkeistämmige, Araber, Afrikaner, Roma und Vietnamesen, denn mit der Einwanderung aus dem Osten wurde insbesondere der Bedarf an Arbeitskräften weitestgehend gedeckt. Der sogenannte Asylkompromiss 1993 verschärfte die Situation für Asylsuchende weiter.

2000er Jahre: Prekäre Arbeit und Arbeitnehmerfreizügigkeit

Die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen führten zu einem massiven Ausbau prekärer Arbeitsverhältnisse. Dies führte zu einem Anstieg informeller und unsicherer Beschäftigungen, von denen viele Migranten betroffen waren.

Die EU-Osterweiterung brachte eine neue Welle von Arbeitsmigranten nach Deutschland. Diese nahmen einen wesentlichen Teil der prekären und informellen Arbeitsplätze an und lebten oft in überfüllten und schlecht ausgestatteten Wohnungen. Die Vernachlässigung von Wohnvierteln und der Anstieg der Mieten führten zu einer weiteren Marginalisierung dieser Gruppen.

Finanzkrise 2008 und ihre Folgen

Die Finanzkrise 2008 hatte weitreichende Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und den Wohnungsmarkt. Die Krise führte zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheiten und zu einer steigenden Nachfrage nach günstigem Wohnraum, während die verfügbaren Sozialwohnungen weiter abnahmen.

2020er Jahre: Anhaltende Wohnungskrise und erneute Asylrechtsverschärfungen

Der Abbau öffentlicher gemeinwohlorientierter Strukturen schreitet weiter voran, während die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse steigt und die Löhne stagnieren oder sinken. Die Mieten steigen weiterhin, was zu einer verstärkten Verdrängung von sozial schwachen und migrantischen Bevölkerungsgruppen führt. Die Verdichtung in Geflüchteten-Unterkünften und die Unterbringung von Arbeiterinnen und Arbeitern in abgelegenen Containern, insbesondere in der Landwirtschaft und Fleischindustrie, sind Ausdruck dieser Entwicklungen. Sie löste aber auch erneut Kämpfe für bezahlbaren Wohnraum und gegen Verdrängung aus, die sich mit migrantischen und antirassistischen Kämpfen sowie Kämpfen um Mitbestimmung verbanden. Die Initiative „Kreuzberg biziz /Wir sind Kreuzberg“ ist so ein Ausdruck oder die zwei Initiativen für die Enteignung großer Immobilienkonzerne in Berlin und Hamburg.

Die Wohnungskrise in Deutschland ist eng mit der Geschichte der Migration und den damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen verknüpft. Die strukturelle Diskriminierung und die politisch motivierten Maßnahmen haben über Jahrzehnte hinweg die Situation verschärft. Die aktuellen Kämpfe für bezahlbaren Wohnraum und gegen Verdrängung sind ein notwendiger Schritt, um eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft würdig leben können.

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