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Es wird ein De-facto-Präsidialsystem aufgezwungen

İhsan Çaralan

Ansprachen in der Wahlnacht vom Balkon der AKP-Zentrale sind zur Tradition geworden. Auch dieses Mal trat der Ministerpräsident vom Balkon vor seine Anhänger und versprach eine Zeit, in der seine Regierung sämtliche Bürger der Landes umarmen werde. Wer deshalb den Glauben an eine neue “von Konsens geprägte Ära ohne Spannungen” hatte, musste diesen Optimismus spätestens zwei Tage nach dem Wahltermin ablegen. Denn die Frage eines Präsidialsystems als Hauptquelle von Spannungen wurde wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Nach der Vorstandssitzung der AKP am Tag nach der Wahl erklärte der Parteisprecher Ömer Çelik, die Verfassungsänderung sei eine der dringlichsten Aufgaben der nächsten Zeit und das Präsidialsystem werde auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt. Seine Einschränkung, die Frage des Präsidialsystems sei kein unverzichtbarer Bestandteil der Verfassungsänderung, wurde einen Tag später vom Vize des Regierungschefs, Yalçın Akdoğan, richtiggesstellt. “Das Präsidialsystem ist genau so wichtig wie eine neue Verfassung und daher unverzichtbar.”
Einen Tag später meldete sich der Sprecher des Staatspräsidenten zu Wort: “Herr Erdogan geht davon aus, dass die Türkei mit dem Präsidialsystem in die höhere Liga aufsteigen wird.” Damit machte er deutlich, dass die Debatte um das Präsidialsystem nicht unabhängig vom Staatspräsidenten losgetreten wurde.

Wenn man berücksichtigt, dass die AKP mit 317 Abgeordneten ins Parlament einzieht und einige von ihnen gegen das Präsidialsystem sind, könnte man die Debatte mit dem Hinweis adacta legen, dass die Mehrheitsverhältnisse im Parlament die Einführung eines Präsidialsystems nicht gewährleisten. Dies wissen allerdings auch diejenigen, die die Debatte neu entfacht haben. Ihnen geht es vordergründig darum, weitere Schritte zur De-facto-Einführung des Präsidialsystems zu unternehmen, wie es von Erdogan nach der Wahl vom 7. Juni gefordert wurde.

Mit der Verknüpfung von Verfassungsänderung und Präsidialsystem wird das Ziel verfolgt, in der AKP und auch der Öffentlichkeit den Gegnern des “De-facto-Präsidialsystems” Hindernisse in den Weg zu stellen. Damit soll die AKP-Fraktion auf Linie gebracht werden. Ferner soll damit auch die “Neustrukturierung der Exekutive” um den Staatspräsidenten, die fast abgeschlossen wurde, und die angestrebte Praxis, vorangetrieben werden, die die Übertragung der tatsächlichen Regierungsgeschäfte einem Team um Erdogan herum sicherstellt und die derzeitige Regierung in ein technisches Ausführungsorgan umwandelt.

Kurzum: es geht bei der Debatte um das Präsidialsystem nicht um ein System, das nach seiner Verabschiedung im Parlament umgesetzt wird. Viel mehr ist es ein System, das jeglicher Rechtsgrundlagen entbehrt ist. Die Debatte dient zur Verschleierung der Tatsache, dass es mit Gewalt und de facto angewendet wird. Dementsprechend muss man sich auch positionieren.

Der CHP-Sprecher Gürsel Tekin lehnte jegliche Gespräche über eine Verfassungsänderung, die auch das Präsidialsystem zum Thema haben, kategorisch ab. Die Ausführungen des HDP-Sprechers Ayhan Bilgen, der eine grundsätzliche Diskussion über alle Themen für zulässig erklärte, wurden in den Medien als ein Zeichen für die Konsensbereitschaft im Bezug auf das Präsidialsystem kommentiert. Sie werden an dieser Interpretation festhalten, obwohl Bilgen beteuerte, dass seine Partei das von AKP angestrebte Präsidialsystem ablehne. Bilgen sollte jedenfalls in seinen künftigen Reden sehr darauf achten, wie er die grundsätzliche Diskussionsbereitschaft seiner Partei formuliert. Sonst wird ihm in den Mund gelegt, dass die HDP bereit wäre, für Gegenleistungen auf ihre Prinzipien zu verzichten.

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