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Fernsehen oder die Faulheit des Geistes

Maruf Gürel

Besonders von älteren Menschen kriegt man sehr oft zu hören: „Seitdem es den Fernseher gibt, gibt es die alten Unterhaltungen nicht mehr.“ Ich verändere diesen Satz nach eigenem Ermessen in: „Seitdem es den Fernseher gibt, haben Eltern nicht mehr so viel Zeit für ihre Kinder zur Verfügung.“

Die Mutter, die vormittags Fernsehen schaut und ihr Kind, was an ihrem Rockzipfel hängt, loswerden möchte, sagt: „Geh` und spiel` mit deinen Spielsachen, siehst du nicht, dass ich fernsehe?“ Nachdem der Vater von der Arbeit nach Hause kommt und das Abendessen zu sich genommen hat, macht er es sich auf seinem Sofa bequem, nimmt die Fernbedienung in die Hand, zappt dann stundenlang von einem Kanal zum anderen. Es bleibt nicht einmal eine halbe Stunde für das Kind übrig. Dabei freute sich das Kind schon den ganzen Tag auf den Vater und hatte es vermisst, mit ihm zu spielen. Familien mit geregeltem Einkommen, sogar Akademikerfamilien, kaufen sogar noch einen zusätzlichen Fernseher für das Kinderzimmer. Aber man ist ja „gebildet“ und vor dem Fernseher-Kauf wird mit dem Kind eine Vereinbarung getroffen. „Erst, wenn du deine Hausaufgaben gemacht hast und für die Schule geübt hast, darfst du fernsehen.“

Das Kind möchte selbstverständlich einen eigenen Fernseher haben und verspricht es sofort ohne zu überlegen. Eigentlich betrügen sich beide Seiten gegenseitig mit dieser Abmachung. Der Hintergrund: Die Eltern werden das Kind los, um zumindest ein paar Minuten für sich oder füreinander zu haben und das Kind sitzt stundenlang vor der Glotze und solange kein Krach passiert, wird es in Ruhe gelassen.

 

Auswirkungen des Fernsehers auf die Entwicklung des Kindes

Untersuchungen zeigen, dass bei Kindern, die über einen Fernseher im eigenen Zimmer verfügen, die schulischen Leistungen, im Gegensatz zu den Erwartungen, sinken. Kinder, die „in der Freizeit“ fernsehen möchten, machen ihre Hausaufgaben auf die Schnelle, für die Fächer und Klassenarbeiten üben sie kaum und können sich nicht richtig vorbereiten.

Die Fernsehgewohnheit bei Kindern wirkt sich nicht nur negativ auf die schulischen Leistungen aus, sondern verlangsamt auch die körperliche, soziale, geistige und die Feinfühligkeitssentwicklung. Weil sich das Kind vor dem Fernseher nicht genügend bewegt und seine aufgenommene Energie nicht verbrennen kann, nimmt es ständig an Gewicht zu. Das Kind, welches draußen mit seinen Freunden spielt und herumtobt, kann so seine ganze Energie entladen und wird ruhiger. Wenn es nach Hause kommt, ist es ausgeglichener. Jedoch ist ein Kind, was stundenlang vor dem Fernseher saß, träge. Hinzu kommen sogar weitere Gefahren: Elektrosmog, was aus elektrischen Geräten ausgestrahlt wird, hat enorme Auswirkungen auf die körperliche Entwicklung eines Kindes und die allgemeine Elektrostrahlenbelastung hat grundsätzlich überall zugenommen. Studien und Untersuchungen belegen, dass „fernsehabhängige Kinder“ meistens nervöser und aggressiver sind, als Kinder, die wesentlich weniger fernsehen.

 

Altersgerechte Programme?

Noch gefährlicher ist sicherlich auch der Inhalt des Angeschauten. Ein Fernseher im eigenen Zimmer bedeutet auch ein bisschen „Freiheit“ für das Kind. Aber diese Freiheit verlangt hohe Kosten: Programme, die nicht dem Alter des Kindes oder des Jugendlichen entsprechen, machen ihn noch verwirrter und die geistige Gesundheit leidet darunter.

Bei Kindern, die fernsehsüchtig sind, nimmt die soziale Geschicklichkeit ab und sie entwickeln sich zu Persönlichkeiten, die sich eher in ihre eigenen Schalen zurückziehen. Wenn es um den Aufbau von sozialen Kontakten, zur Familie, zu Freunden oder anderen Menschen geht, zeigen sie kaum Interesse. Im Endeffekt ist es auch logisch: beim Fernsehen ist man meistens nur passiv, sitzt, produziert selber nichts, ist nicht kreativ und beobachtet lediglich das von anderen Produzierte oder Wiedergegebene. Kinder die gewohnt sind, lediglich das Fertige zu konsumieren, verlieren die Handgeschicklichkeit und ihre Feinmotorik kann sich nicht entwickeln. Ohne die Hilfe von Erwachsenen schaffen sie oft nur wenig. Ihr Geist und ihre Gefühle entwickeln sich nicht „normal“. Sie können zwischen den Ereignissen keine Ursache-Ergebnis-Beziehung aufbauen, sie können das Wissen aus dem Fernseher nicht praktisch auslegen. So etwas wie Bücher lesen und für die Schule lernen, was Geistesleistung erfordert, gefällt ihnen nicht. Da sie vor dem Fernseher ständig im Aufnahmezustand sind, haben sie kein Bedürfnis, zu sprechen, infolge entwickelt sich auch ihr Sprachgebrauch nicht. Das kann man sogar oft im Bus oder in der Bahn beobachten, wenn eine Gruppe Kinder oder Jugendlicher miteinander kommuniziert. Oft kommt man sich als Beobachter selber komisch vor, weil die Dialoge abgehakt sind oder Gefühle und Gedanken nicht richtig ausgedrückt werden können.

 

Fernsehsucht und soziale Kontakte

Bei Kindern, die sich sehr früh an das Fernsehen gewöhnt haben, sind mehr Entwicklungsstörungen vorhanden, die man sehr ernst nehmen sollte. Diese Kinder können im Gegensatz zu gleichaltrigen viel später sprechen oder gehen. Gespräche und vorgegebene Richtlinien zu verstehen, fällt ihnen schwer. Dadurch, dass ihre Sprachfertigkeiten nicht ausgereift sind, versuchen sie, ihre Wünsche durch „bei der Hand nehmen“ oder „auf etwas zeigen“ zu vermitteln. In der Regel sind solche Kinder sehr Mutter-bezogen, können keine emotionale Beziehung zu Fremden aufbauen. Küssen und Umarmen mögen sie nicht. Wenn man sie mit ihrem Namen ruft, geben sie oft keinerlei Reaktion. Mit gleichaltrigen spielen bzw. ein Spiel zustande bekommen, scheitert an ihrer Ungeschicklichkeit. Hände und Finger können sie nicht gut benutzen. Sie mögen es nicht, sich an Orten, wie in der Stadt, auf einem Markt, in öffentlichen Verkehrsmitteln, sprich wo Menschenmengen sind, aufzuhalten. Sie können dabei mürrisch werden. Bei den Kindern, die seit der Geburt geistig etwas zurückgeblieben sind und zu viel ferngesehen haben, nehmen die Symtome für Autismus zu. Diese Kinder zu erziehen wird immer schwerer.

 

Kinder brauchen mehr Zeit

Die einzige Lösung, Kinder von der Fernsehsucht zu befreien, ist, sich Zeit für sie zu nehmen. Die Priorität als Mutter und Vater sollte sein, den Kindern eine gute Erziehung zu geben. Nichts ist wichtiger, als die Kindeserziehung. Jedoch werden oft die gleichen Fehler gemacht: Man versucht das Kind in eine Richtung zu lenken. Man muss aber beachten; falls das Kind kein Interesse in Sachen wie Musik, Malen, Sport oder Lesen zeigt, dann können Mutter und Vater auch mit einem Fernsehverbot die Probleme nicht lösen, im Gegensatz es wird wahrscheinlich noch schwieriger.

Ich sprach mal mit einem anderen Vater, der sich über die Sturheit, das nicht-Gehorchen, dem übertriebenen Fernsehkonsum und dem schulischem Versagen seines Kindes beschwerte. Ich sagte: „Nehmen Sie sich Zeit für ihr Kind“. Seine Antwort: „Wir lernen jeden Abend mindestens eine Stunde zusammen für die Schule, aber es ändert sich nichts.“ Ich denke, dass der Vater „sich Zeit nehmen“ anders versteht, als ich. Das Kind hat kein Vergnügen bei diesem „Zusammensein“, im Gegensatz möchte es, dass es so schnell wie möglich zu Ende geht. Das Kind zu unterrichten heißt nicht automatisch, sich Zeit für ihn zu nehmen. Nicht die Dauer, sondern die Qualität ist von Bedeutung. Wenn beide Seiten vom Zusammensein zufrieden sind, dann liegt eine qualitative Zweisamkeit vor. Spazierengehen, auf den Spielplatz gehen, Picknicken, nach dem Abendessen zusammen mit der ganzen Familie bei Tee und Kuchen Gespräche führen, gemeinsam einen ausgesuchten Film oder ein qualitatives Programm anschauen, vor dem zu Bett gehen dem Kind ein Märchen oder eine Kurzgeschichte vorlesen usw sind keine Tätigkeiten, für den man einen ganzen Tag braucht. Oft reicht es auch nur aus, dem Kind oder Jugendlichen einfach nur ein guter Zuhörer zu sein. Eltern, die ihren Kindern nicht zuhören, haben Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Je mehr man aber das Kind kennt, desto realistischer werden die Erwartungen, was seine Fähigkeiten und Interessen angeht.

 

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