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Für die in der Verfassung festgeschriebene Meinungsäußerung

Dr. Filiz Ufuk Çilek / Güzelcamlı

Als die AkademikerInnen dieses Flugblatt veröffentlichten, stützten sie sich auf das Recht der verfassungsrechtlich garantierten freien Meinungsäußerung … Sie machten zuständige Gremien darauf aufmerksam, dass, auch wenn ein Land sich im Kriegszustand befinde und Kriegsrecht Anwendung fände, dass der Staat sich an die internationalen Gesetze und an das Völkerrecht zu halten habe und darauf verpflichtet sei. Aber die Mechanismen der irrationalen Überempfindlichkeit stellten sich rasch ein und als ob die Verfassung nicht mehr wichtig und grundlegend gewesen wäre, wurden die Unterzeichner dieses Flugblatts bezichtigt und ihnen wurde vorgeworfen, Propaganda der verbotenen Terrororganisation zu betreiben und gleichzeitig den Staat in eine schwierige Lage bringen und lenken zu wollen. Die Verwaltungen der Universitäten zwangen viele Unterzeichner des Flugblattes, also Professoren und Lehrkräfte an den Universitäten dazu, „auf eigenen Wunsch“ zu kündigen und setzten diese entsprechend unter Druck oder kündigten die bestehenden Arbeitsverträge einseitig. Auf der anderen Seite wurde gegen diese Klage bei den Gerichten erhoben.

Dieser Zwang und diese Sanktionen haben diejenigen Bereiche der Gesellschaft -auch uns in Kusadasi mit eingeschlossen-, die sich für die Einhaltung und Gewährleistung der in der Verfassung festgeschriebenen Grundrechte einsetzen wollen, bewegt, sich mit diesen Akademikerinnen zu solidarisieren. Wir haben damit zusammenhängend dann auch öffentlich erklärt und unsere demokratische Reaktion kundgetan, dass auch wir dieses Flugblatt unterzeichnen, unterstützen und mittragen und haben uns selbst bei den zuständigen Gremien angezeigt und erklärt, das wir diese Schuld, wenn es denn eine sei, mit den AkademikerInnen auch mittragen wollen. Wir taten das, um die sofortige Beendigung der Gewalt in den südöstlichen Provinzen des Landes herbeizuführen und gleichzeitig wollten wir auch auf diesem Rechtsbruch und dieser Verletzung der Meinungsfreiheit, die in Form der Zwangs- und Druckmittel auf die AkademikerInnen vollzogen wurde, entgegentreten. Aber der Kopf, der die Idee der Unterstützung der Propaganda der Terrororganisation frei erfunden hatte, reagierte schnell und wir wurden in Polizeigewahrsam genommen. 46 von uns wurden angeklagt.

Die Vernehmungen während der Untersuchungshaft zeigten uns sehr deutlich, welche Haltung gegen die AkademikerInnen und uns entgegengebracht und eingenommen wurde. Sie sagten uns während der Vernehmung, dass wir mit diesem Flugblatt die PKK legalisieren wollen und den türkischen Staat international bloßstellen und in eine schwierige Situation bringen würden. Das Flugblatt sei im Rahmen des Aufrufes von Bese Hozat [Anm. d. Übersetzers: Bese Hozat ist das ranghöchste weibliche Mitglied der PKK-Führung und Co-Vorsitzende der KCK-Union der Gemeinschaften Kurdistans] geschrieben worden, die den Intellektuellen den Befehl gebe, sich gegen das Land zu stellen. So würden die Akademiker auf diesen Befehl hin, dieses Flugblatt veröffentlicht haben! Und da wir diese AkademikerInnen unterstützten und uns mit ihnen solidarisierten, könnten wir auch nur diesem Befehl untergeordnet sein! Sie fragten uns, ob wir Verwandte hätten, die in Verbindung mit der Organisation verurteilt waren. Sie fragten uns nach unserer politischen Richtung und nach Parteimitgliedschaften und ob wir schon mal in polizeilichem Untersuchungshaft gewesen waren oder in Polizeigewahrsam standen? Die Fragen, die uns gestellt wurden, wurden höchstwahrscheinlich bei allen Vernehmungen gestellt. Sie versuchten uns in die Falle zu locken. Sie wollten während der Vernehmung “unsere Ansichten in Erfahrung bringen” und hiernach entsprechende weitere Schritte einleiten.

Eine kurze Schilderung über das, was geschehen war: AkademikerInnen haben ein Flugblatt veröffentlicht, in welchem sie die stattfindende Gewalt verneint und verabscheut hatten. Sie riefen sogar im Gegenteil zur sofortiger Waffenruhe und Frieden auf. Und wir haben dieses Flugblatt unterstützt, aber auch, wenn wir es nicht inhaltlich unterstützt und inhaltlich nicht als richtig empfunden hätten, traten wir für das Recht der freien Meinungsäußerung und der Meinungsfreiheit ein. Wir wollten also hauptsächlich für die Meinungsfreiheit eintreten. Wir stehen dafür ein, dass alle Menschen frei ihre Meinung äußern dürfen, ohne irgendwelche Sanktionen befürchten zu müssen. Alle Meinungen, die nicht Gewalt verherrlichen, sollten überall frei geäußert werden dürfen und sollten überhaupt keine Sanktionen befürchten müssen. Wenn wir denjenigen, die ihre Meinung frei äußern wollen, nicht unterstützend beistehen dürfen, wird sich in Zukunft niemand mehr trauen, seine Meinung zu äußern… Wenn es so weitergeht, wird es bald keine Meinungsfreiheit mehr geben! Denn die Verhaftungen und Klagen zeigen uns deutlich, dass gerade JedeR einer justiziellen Bedrohung gegenübersteht!

Indessen stellt die Meinungsäußerung keine Strafe dar und das sollten alle Justizbediensteten und Mitglieder der Justiz wissen. Auch in der Verfassung oder auch in den Entscheidungen der Europäischen Menschenrechtskonvention steht festgeschrieben und ist anerkannt, dass nicht-gewaltverherrlichende und keine gewaltbeinhaltende Meinungen, auch wenn sie sich gegen staatliche Institutionen und die Figuren der Autorität richten mögen, frei geäußert werden dürfen und keinen sie begrenzenden und einschränkenden Schranken ausgesetzt werden dürfen. Hierbei wird deutlich gemacht, dass auch im Falle schwerer Anschuldigungen und belastenden Aussagen, diese von der Politik toleriert werden müssen. Es liegen uns diese oben erwähnten Entscheidungen vor, dennoch werden Menschen, die Frieden einfordern, vors Gericht gebracht. Das verdeutlicht uns also, dass dieses Ereignis willkürlich geschieht. Wir denken, dass auch wir unter dem Druck der an der Macht sitzenden politischen Regierung angeklagt wurden. Wir wollen aber dennoch an die Hoheit der Justiz und an die Unabhängigkeit der Gerichte vertrauen dürfen und wollen gerne annehmen, da unsere Äußerungen keinerlei Gewalt beinhalten, dass wir wieder freigesprochen werden. Wir wollen daran glauben, dass die Gerechtigkeit siegen wird.

Am 19. Oktober 2016 findet die erste Gerichtsverhandlung gegen uns statt. Die Anklage lautet „Verbreitung und Verherrlichung von Terrorpropaganda“. Der Verkündungstermin ist auf den 24. Oktober angesetzt. Wir rufen die Öffentlichkeit dazu auf, uns bei beiden Gerichtsterminen nicht allein zu lassen, uns beizustehen und sich mit uns zu solidarisieren.

Übersetzt von Özgür Metin Demirel

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