Written by 13:23 TÜRKEI

Haben ausländische Stimmen das Wahlergebnis beeinflusst?

Recep Tayyip Erdoğan erhielt in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 28. Mai 52,16 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu erhielt 47,86 Prozent der Stimmen. In der ersten Runde, die am 14. Mai stattfand, hatte Erdoğan 49,5 Prozent der Stimmen erhalten und Kılıçdaroğlu 44,88 Prozent.

Kurz nach der Veröffentlichung der amtlichen Ergebnisse des zweiten Wahlgangs begannen nationalistische und Erdoğan-gegnerische Medien und Journalisten, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen und das Scheitern Kılıçdaroğlus zu erklären. An erster Stelle der Erklärungsversuche kam, dass die im Ausland lebenden Wähler und die Ausländer, die die türkische Staatsbürgerschaft angenommen haben, insbesondere diejenigen, die aus Syrien und den arabischen Ländern kamen, einen Einfluss auf das Ergebnis hatten. Sie zielten vor allem auf die im Ausland lebenden türkischstämmigen Wähler ab und erweckten den Eindruck, dass deren Wahlpotenzial entscheidend gewesen sei. Die Wahlmathematik zeigt jedoch eindeutig, dass diese Behauptungen nicht zutreffen.

FAKTEN UND ZAHLEN

Nach der offiziellen Stimmauszählung erhielt Erdoğan am 28. Mai 27.725.131 Stimmen und Kılıçdaroğlu 25.432.951 Stimmen. Die Differenz zwischen den beiden Stimmen beträgt 2.319.180.

Bei der Stichwahl mit einer einfachen Mehrheit, also 50 Prozent + 1 Stimme, die für den Sieg reicht, hätte Erdoğan die Wahlen dennoch gewonnen, wenn er von den gültig abgegebenen 51.414.604 Stimmen 25.707.303 Stimmen erhalten hätte. Erdoğan erhielt -vorbehaltlich es kam nicht zu Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug- 2.017.828 mehr Stimmen als erforderlich.

Somit wird deutlich, dass Erdoğan nicht wegen der aus dem Ausland abgegebenen Stimmen gewählt wurde.

ERDOĞAN HAT SEINE STIMMANTEILE IM AUSLAND ERHÖHT

Insgesamt gaben 1.751.943 sogenannte Auslandstürken ihre Stimmen ab, davon waren 1.743.478 Stimmen gültig. Selbst wenn 100 Prozent dieser gültigen Stimmen für Erdoğan abgegeben worden wären, wäre eine Änderung des Ergebnisses nicht möglich.

Erdoğan erhielt 59,39 Prozent (1.035.467 Stimmen) der aus dem Ausland abgegebenen Stimmen, während Kılıçdaroğlu 40,61 Prozent (708.011 Stimmen) erhielt. Die Differenz beträgt 327.456 Stimmen.

Ähnliches gilt auch für die in Deutschland abgegebenen Stimmen, dem Land mit den meisten im Ausland abgegebenen Stimmen. Am 14. Mai entfielen 65,49 Prozent (475.593) der in Deutschland abgegebenen Stimmen auf Erdoğan, während Kılıçdaroğlu 32,52 Prozent (236.127) erhielt. Bei der Stichwahl erhielt Erdoğan 67,36 Prozent (473.297) der 702.687 gültigen Stimmen, während Kılıçdaroğlu 32,64 Prozent (229.390) erhielt. Ein Blick auf diese Zahlen zeigt, dass Erdoğan einen leichten Zuwachs und Kılıçdaroğlu einen etwas größeren Zuwachs an Stimmen erzielt hat. Insgesamt erhielt Erdoğan in Deutschland 243.907 Stimmen mehr als Kılıçdaroğlu.

Die Daten zeigen deutlich, dass die aus dem Ausland abgegebenen Stimmen einen Einfluss auf das Wahlergebnis hatten, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Dennoch zielt die häufige Beschuldigung ausländischer Wähler durch einige Teile der Gesellschaft und ihre entscheidende Rolle bei den Wahlergebnissen zum einen darauf ab, Vorurteile zu schüren und zum anderen, was vielleicht noch wichtiger ist, darauf, das Bild innerhalb der Türkei zu verschleiern. Es wäre sinnvoller, darüber nachzudenken, warum Millionen von in der Türkei lebenden Wählern für Erdoğan gestimmt haben und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen.

Man kann natürlich darüber diskutieren, warum die im Ausland lebenden türkeistämmigen Menschen mehr für Erdoğan gestimmt haben oder ob es richtig ist, dass sie in der derzeitigen Situation wählen.

WAHLRECHT FÜR DEUTSCHE IM AUSLAND IM VERGLEICH

Seit 1987 hat jeder im Ausland lebende türkische Staatsbürger das Recht, an den Zollschranken zu wählen. Seit 2014 ist dieses Recht auch in den Botschaften und Vertretungen möglich. Die derzeitige Praxis sieht vor, dass jeder volljährige Staatsbürger, der im Ausland registriert ist, wählen darf. Dabei spielt es keine Rolle, ob er oder sie in Zukunft in der Türkei leben wird.

Viele Länder der Welt erlauben ihren im Ausland lebenden Bürgern das Wahlrecht. Es gibt jedoch bestimmte Bedingungen. In Deutschland zum Beispiel müssen sie nach ihrem 14. Lebensjahr mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland gelebt haben und dieser Zeitraum darf nicht länger als 25 Jahre zurückliegen. Außerdem müssen diese Personen vor jeder Bundestagswahl ihre Wahlabsicht auf einem Formblatt gegenüber dem Landratsamt, dem sie angehören, erklären und sich so in das Wählerverzeichnis eintragen lassen. Im Ausland lebende Deutsche wählen per Briefwahl. Diejenigen, die zuvor im Ausland gelebt haben und nach Deutschland zurückgekehrt sind, müssen mindestens drei Monate im Land gelebt haben.
In Zukunft könnte die Türkei neben der Staatsbürgerschaft und der Eintragung in das Wahlregister im Ausland auch neue Kriterien einführen, um die Wahlbeteiligung derjenigen einzuschränken, die nicht in der Türkei leben und auch nicht leben werden. Auf diese Weise könnte verhindert werden, dass sie mitbestimmen, wer in dem Land, in dem sie nicht leben oder teilweise nicht mal geboren sind, an die Macht kommt. Es liegt jedoch auf der Hand, dass Erdoğan und seine Partei, die von der derzeitigen Situation profitieren, eine solche Vereinbarung nicht unterstützen werden. Flankenhilfe könnte Erdoğan übrigens auch von der Bundesregierung bekommen: In dem vorbereiteten Entwurf des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes wird die doppelte Staatsangehörigkeit, die seit dem 1. Januar 2000 verboten ist, generell erlaubt. Diejenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, behalten ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit, während die türkeistämmigen Bürger, die die deutsche Staatsangehörigkeit bereits erworben haben und derzeit nur die deutsche Staatsbürger besitzen, wieder türkische Staatsbürger werden dürfen. Der Gesetzentwurf wird voraussichtlich noch in diesem Jahr in Kraft treten. Wenn er in seiner jetzigen Form in Kraft tritt, könnte die Zahl der aus Deutschland abgegebenen Stimmen in fünf Jahren deutlich höher ausfallen.

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