Written by 11:30 HABERLER

In Hamburgs Schulen läuten nicht Alarmglocken sondern Katastropfensirenen!

Deniz Tunc

Die Schlagzeilen aus der regionalen und nationalen Presse in den letzten Wochen machen deutlich, dass sich die Bildungslandschaft durch das fehlende Vermögen an lösungsorientierten Maßnahmen der Bildungsministerien in einer vielseitigen und kaum anzuhaltenden Krise befindet. 

In Hamburg ignoriert die Schulbehörde laut GEW regelrecht den Hilfeschrei der Schulgemeinschaften und versucht sogar mit ausgewählten und teilweise zweckentfremdeten Statistiken den Eindruck zu erwecken, dass alles gut läuft. 

Fast jede Woche werden Schulen und Bildungsbeteiligte mit neuen Änderungen und Regelungen von den eingeführten Pandemie-Maßnahmen überschüttet und  in ein Chaos geleitet. Im selben Schreiben regelt Hamburgs Schulsenator Ties Rabe kurzerhand auch die Abschlussprüfungen, die Lehraufträge und die staatliche Unterstützung der Kita-Kinder. Die Regelungen, Maßnahmen, Änderungen unter seiner Führung sind weit entfernt von notwendigen Lösungen für Probleme des Hamburger Bildungswesens. Mit seiner Haltung, die Probleme verleugnet und sogar Hamburgs Schulen als “Vorbild” darstellt, schubst der Bildungssenator sowohl die Beteiligten als auch die Betroffenen seiner Politik (Eltern, Schüler, Lehrkräfte und andere Beschäfigte der Bildung) in eine tiefe Krise. 

In Hamburg ist Ferunterricht uneinheitlich! 

Die Schulbehörde überlässt die Durchführung des Fernunterrichts den Schulen, die ihre pädagogische “Freiheit und Autonomie” behalten sollen. Dieses überdeckt die Tatsache, dass die Schulen und SchülerInnen auf dem Bildungsweg mit ungleich geteilten Ressourcen und Voraussetzungen arbeiten müssen. Damit wird der Unterricht ungleichen Ausgangsbedingungen und Ausstattungen einzelner Schulen ausgeliefert. 

Die technischen Möglichkeiten der Hamburger Schulen sind nicht einheitlich, die datenschutzrechtlichen Belange nicht standardisiert, die technischen und personalen Mängel in der Verteilung der staatlichen Ressourcen und die nicht standardisierten Unterrichtskonzepte führen zu einer fast beliebigen Praxis im Unterricht. Das führt dazu, dass ein Kind mit Arbeitsblättern und Wochenplänen arbeitet, ohne online-Unterricht zu erhalten, während die Schwester immer online am Lapptop arbeiten muss. Besonders Kinder in Familien mit zwei und mehr Kindern werden durch fehlende Unterrichtsmaterialien und teure Endgeräten benachteiligt, während die Familien mit Migrationsgeschichte teilweise wegen Sprach- und Kulturbarrieren ihren Kindern kaum helfen können, weil sie das Schulsystem wenig verstehen und die neuen Regelungen kaum nachverfolgen können.

Die seelische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen spielt keine Rolle!

Eine Unterschuchung zu den Folgen der Pandemie-Phase im Frühling 2020 versetzte das Land in große Sorge (ärzteblatt.de). Alle waren mehr oder weniger der Meinung, dass die Schulen nicht noch mal geschlossen werden dürfen, da die Kinder und Jugendlichen die Leidtragende des ersten Lockdown waren. Doch die Pläne und Programme für die Lenkung weiterführender Maßnahmen blieben weit entfernt von den Lösungen der Probleme in den Schulen. Die Untersuchung stellte fest, dass die Folgewirkungen des Lockdowns auf die klassenspezifischen und soziokulturellen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen zurückzuführen sind. Die Erreichbarkeit der Unterrichtsmaterialien, Pro-Kopf-Größe der Wohnungen, Ernährungs- und Freizeitkultur sowie Kommunikation in der Familie beeinflussen laut der Untersuchung im Lockdown die seeliche Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Diese zeigen Symptome wie Rückenschmerzen, Nervosität, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Gereiztheit. 

Schon im Sommer 2020 begannen die Praxen und Berufsgruppen, die sich mit seelischer Gesundheit befassen, über ihren Kapazitäten zu arbeiten. Schulpsychologen, Jugendämter und sozialpädagogische Dienste in Hamburg sind seit Jahren unterbesetzt, so dass die seelischen Probleme der Kinder und Jugendliche im System nicht mehr aufgefangen werden können. Dazu kommt noch, dass die Schulbehörde kein Interesse zeigt, diese Probleme überhaupt zu erfassen. 

Arbeiterfamilien, Arbeitslosen und Migranten erleiden die Krise stärker! 

Fehlende Sicherung ihrer Arbeitsplätze, die Verspätung der staatlichen Hilfen, finanzielle und soziale Belastungen durch Arbeitslosigkeit u.v.m erschweren das Familienleben der SchülerInnen in besonders benachteiligten Stadtteilen. Zukunftsängste, Sorgen und Kummer in der Erziehung und Versorgung der Kinder führen zu Psychosen und Eskalationen im Familieneben. Durch die Verlegung der schulischen Aktivitäten in die Familie werden diese Probleme den Familien überlassen, die ohnehin nicht in der Lage sind, die Beratungs- und Hilfedienste in Anspruch zu nehmen. 

Jede vierte Lehrkraft zeigt Symptome des Burn-Outs! 

Die tragende Säule der Schulen, die Lehrkräfte, stehen nach GEW-Sprecherin Tepe im Zwiespalt. Die Schulbehörde beachte die Vorschläge und Konzepte aus den Schulen zu Beginn des Schuljahres nicht und ordnete Maßnahmen und Regelungen ein, die die Arbeit in den Schulen erschwerten. Mit der Einführung des Ferunterrichts arbeiten LehrerInnen -der Anteil unter ihnen mit eigenen Kindern ist hoch- zu Hause unter noch mehr erschwerten Arbeitsbedingungen. Online-Aktivitäten erhöhten die Arbeitszeit der LehrerInnen durchschnittlich um 20 %. Eine Untersuchung, die im Dezember von der GEW veröffentlicht wurde, stellt fest, dass 25 % der Lehrkräfte die Symptome eines Burn-Outs zeigen und unter psychosomatische Beschwerden leiden. Auch diese Tatsache wird von der Schulbehörde ignoriert.


Gewöhnliche Szenen bei Homeschooling 

Frau Mustermann kontrolliert die Online-Anwesenheit ihrer Klasse, während sie einen Blick auf ihren Sohn Jonas (3. Klasse) wirft, der am anderen Ecke des Wohnzimmers am Bildschirm seinem Unterricht folgt. Er ist nicht glücklich, dort lernen zum müssen, da er aus dem Kinderzimmer geholt wurde. Kurz vorher war er noch damit beschäftigt, seine Schwester (4. Klasse) abzulenken, die gerade Lesen und schreiben üben soll.

Das Handy klingelt. Es ist die Mutter von Zara aus ihrer 9. Klasse. Die Vierzehnjährige ritzt und kratzt sich an den Armen und anderen Körperstellen mit ihren Nägeln und andren spitzen Gegnständen, hat fast jeden Tag Nervenausbrüche, weint, kreischt und schreit laut mehrere Minuten lang. Manchmal schließt sich sich in ihrem Zimmer ein und reagiert nicht auf die Ansprachen der Eltern. Mit der Ausrede, sie solle lernen, registriere sie sich in Webseiten 18+, schließe Verträge und die Rechnungen müsse der Vater bezahlen, der vor einem Monat seine Arbeit verloren habe. Die Mutter ist kurz davor zu weinen. Frau Mustermann möchte etwas sagen, findet aber keine Pause. Letztendlich unterbricht sie die Mutter und macht einige Vorschläge, wie die Eltern handeln könnten und verspricht ihr mit der Sozialpädagogin zu reden, um weitere Möglichkeiten aufzudecken. Die Lehrerin entschuldigt sich, dass sie in einigen Minuten eine Zeugniskonferenz hat, und deshalb auflegen muss, doch die Mutter könne sie am Abend anrufen, wenn sie noch Gesprächsbedarf hat. 

Das ist der dritte Anruf diese Woche. Bei den anderen ging es um Schüler aus ihrer Klasse, die zu Hause in einem Wutanfall alle Gegenstände, die ihnen in die Hände fielen, auf den Boden warfen und zerbrachen. Bei den Jugendlichen waren die Symptome einer Depression zu beobachten. Wenn Frau Mustermann an ihren Sohn Jonas denkt, der seit einer Woche die Gewohnheit entwickelt hat, mit dem Fuß gegen die Wand oder Möbel zu treten, kommt bei ihr ein Unbehagen hoch, doch sie muss jetzt das Essen für ihre Kinder auf den Tisch stellen und in 10 Minuten in die Online-Konferenz gehen. 

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