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Kant: Der Unsinn des „Kategorischen Imperativs“

Anton Stengl

Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ So lautet Kants „Kategorischer Imperativ“. Die Entscheidung über sein Handeln trifft der Einzelne allein, völlig autonom. Dies klingt nach Freiheit, Selbstbestimmung, Individualismus – also nach Werten der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Europa und nach den Werten, die dem Bürgertum auch heute in seiner Ideologie heilig sind. Nichts wird als schrecklicher empfunden, als ein „Eingriff in die persönliche Freiheit“ – um damit den hemmungslosesten Egoismus und das erschreckend asoziale Verhalten zu rechtfertigen, dass im Alltagsleben in Europa immer mehr Normalität wird.

Wer konnte gemäß Kant Entscheidungen treffen? Für ihn war es dem Bürgertum vorbehalten: „Der Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote…; der Unmündige…; alles Frauenzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach Verfügung Anderer (außer der des Staates) genöthigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz.12

Ehefrau, Kinder und Hauspersonal zählte er nicht zum „Besitz“, aber zur „Habe“. Verlässt die Ehefrau ihren Gatten, hat er daher das Recht, sie „gleich als eine Sache“ zurückzuholen.3

Seine Verachtung gegenüber der überragenden Mehrheit der Bevölkerung – den Bauern, Handwerkern, Arbeitern und den Frauen – findet man in seiner Definition der Aufklärung: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit?

Das Subjekt seiner Ethik kann für Kant nur der aufgeklärte, gebildete, wohlhabende Bürger sein. Man kann ihn sich mit Gehrock, weißer Perücke und Spazierstock vorstellen – so wie sich Kant präsentierte. Nur der Bürger trifft Entscheidungen, bei denen er im Kategorischen Imperativ an seinesgleichen denkt.

Aber ist nicht doch ein wenig Rebellion in diesem Prinzip enthalten? Immerhin hat keine andere Person oder Institution mir in meine Entscheidung hineinzureden. Kant sagt:

Zu dieser Aufklärung wird nichts erfordert als die Freiheit; und zwar die Unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ „Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr dem ganzen Publikum der Leserwelt macht.“

Es handelt sich hier also um eine wenigen Privilegierten vorbehaltene, passive Freiheit: Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit. In ihrer gesellschaftlichen Funktion haben alle – wortwörtlich – als „Teil der Maschine“ zu funktionieren. Hier spürt man die rückständige, typisch preußische Haltung Kants.

Hamann, einer der ersten Kritiker Kants, bemerkte treffend: „Was hilft mir das Feyerkleid der Freyheit, wenn ich daheim im Sclavenkittel?“ Von einer freien Gesellschaft als Ergebnis einer radikalen Umgestaltung – wie es 1789 in der Französischen Revolution angestrebt wurde – ist bei Kant nicht die Rede.

Aber was denkt sich der Bürger bei seinen Entscheidung? Was geschieht, wenn sie, entsprechend dem Kategorischen Imperativ getroffen, den Idealen der Aufklärung völlig widerspricht und zutiefst unmenschlich ist? Es ist möglich. Dieser Imperativ ist einerseits stur und in seiner Konsequenz menschenverachtend und andererseits inhaltlich völlig leer.

Ernst Bloch erklärt es folgendermaßen:

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst?“ fragte ein preussischer Offizier, wieso liebe ich mich so sehr. Ich liebe die Anderen genau wie mich, nämlich nicht.“4

Wenn es der Offizier als erstrebenswert ansieht, sich im Krieg für die Heimat zu opfern, so gilt seine Maxime für die gesamte Mannschaft: Mit dem Kategorischen Imperativ schickt er seine Soldaten in den Tod.

Die Philosophen des Deutschen Idealismus nach Kant – von Herder, Fichte und Schelling bis Hegel – kritisierten, dass seine Ethik keinen Inhalt hat und auch keinen Inhalt haben kann, daher ist sie untauglich5.

Der Deutsche Idealismus fand jedoch nicht zum Prinzip der Glückseligkeit als Ziel der Ethik zurück, wie es in der Antiken Philosophie der Fall war. Kant steht dem Glück völlig gleichgültig gegenüber.6 Die Vernunft, die bei der Glückseligkeitsethik ein Mittel zum Zweck ist, nämlich um glücklich zu sein, ist bei ihm ein metaphysisches Prinzip, völlig losgelöst von den Bedürfnissen und Interessen des Menschen. Wohin das führt, zeigt das Beispiel des Verbots des Selbstmords: Unlust treibt unser Leben an, sagt Kant, z. B. bringt mich das Unlustgefühl Hunger dazu, zu essen. Will ich aus Unlust am Leben Selbstmord begehen, dann ist dies unlogisch, da die Unlust ja eine Triebkraft des Lebens ist.7

Diese Argumentation wird wohl niemanden vom Selbstmord abhalten.

Über die Unmöglichkeit, sein Prinzip allgemein zu verwirklichen, sagt Kant nur: „Der Mensch ist aus krummen Holze, aus dem nichts Gerades gezimmert werden kann.“

Eine Frage taucht natürlich auf: Warum sollte ich mich auf ein so eigenartiges Prinzip, wie es der Kategorische Imperativ ist, überhaupt einlassen? Was könnte mich dazu bringen, bei jeder meiner Entscheidungen zu überlegen, ob man auch ein allgemeines Gesetz daraus machen könnte?

Es ist meine Pflicht!

Pflicht! Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest!“, sagt Kant.

Der „Gute Wille“ des Menschen bedingt, dass pflichtgemäß gehandelt wird. Karl Marx schrieb: „… brachten es die ohnmächtigen deutschen Bürger nur zum „Guten Willen“. Kant beruhigte sich bei dem bloßen „Guten Willen“, selbst wenn er ohne alles Resultat bleibt, und setzte die Verwirklichung dieses „Guten Willens“, die Harmonie zwischen ihm und den Bedürfnissen und Trieben der Individuen, ins Jenseits. Dieser „Gute Wille“ Kants entspricht vollständig der Ohnmacht, Gedrücktheit und Misere der deutschen Bürger, deren kleinlichen Interessen nie fähig waren, sich zu gemeinschaftlichen, nationalen Interessen einer Klasse zu entwickeln, …“8

Die „Pflicht“ und der „Gute Wille“ sind rein metaphysische Prinzipien, ohne weitere rationale Herleitung und Begründung. Es gibt keine wissenschaftliche oder empirische Beweisführung – was Kant auch prinzipiell ablehnen würde.

Die vielfache Wiederentdeckung Kants hat seine Motivation in der Inhaltsleere seiner Doktrin. Sie scheint auf den ersten Blick sozial zu sein – denn ich denke bei meinen Entscheidungen immer an die Allgemeinheit – zugleich aber individualistisch, ja solipsistisch, denn nur ich allein treffe meine Entscheidung – ohne jede Konsultation mit anderen Personen und ohne das Spezifische einer Situation zu berücksichtigen. Darin liegt der Erfolg.

1 Inhärenz: Zugehörigkeit als charakteristische Eigenschaft


2 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre


3 Ebenda, §25


4 Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung


5 Zum Beispiel: Hegel, G. W. F., Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts,
seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven
Rechtswissenschaften (Naturrechtsaufsatz), TWA 2, S. 461

6

 Friedrich Nietzsche: „Eine Handlung, zu der der Instinkt des Lebens zwingt, hat in der Lust ihren Beweis, eine rechte Handlung zu sein: und jener Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden (gemeint ist Kant) verstand die Lust als Einwand.“

7

 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten

8

 Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie

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