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Migration als dauerhafte gesellschaftliche Realität – von 1961 bis heute

Am 30. Oktober 1961 wurde das türkisch-deutsche Anwerbeabkommen beschlossen, mit dem türkeistämmige „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen. Anlässlich des Jahrestags haben wir mit Prof. Dr. Helen Baykara-Krumme, Professorin an der Universität Duisburg-Essen für Soziologie mit dem Schwerpunkt Migration und Teilhabe über Migration, die Zeit damals und heute gesprochen.

Welche langfristigen politischen und gesellschaftlichen Folgen hatte das Abkommen für das Verständnis von Migration und Integration in Deutschland?

Foto: Privat

Migration hat in Deutschland eigentlich immer schon eine große Rolle gespielt, aber das ist in Debatten zu diesem Thema kaum präsent. So gab es vor den Weltkriegen zum Ende des vorletzten und zu Beginn des letzten Jahrhunderts viel Auswanderung von Deutschen und zugleich auch Einwanderung nach Deutschland. Im Zuge der Weltkriege hat es Flucht- und Zwangsmigrationen gegeben, nach dem 2. Weltkrieg lebten Millionen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge als „Displaced Persons“ in Deutschland. Viele Menschen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Abstammung aus dem östlichen Europa mussten ihren Platz in der Gesellschaft in den neuen Grenzen Deutschlands neu finden. Mit den Anwerbeabkommen, zunächst 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland und 1961 mit der Türkei (später folgten noch weitere mit anderen Ländern), begann dann ein weiteres Kapitel der Migrationsgesellschaft Deutschland.

In dieser Zeit migrierten viele Menschen nach Deutschland, aber auch in andere Länder Westeuropas, die ähnliche bilaterale Abkommen geschlossen hatten. Viele Migrantinnen und Migranten blieben, andere kehrten zurück. Der Migrationsforscher Jochen Oltmer spricht in seinen Texten von 14 Millionen Menschen, die zwischen 1955 und 1973 nach Deutschland einreisten und von 11 Millionen, die in diesem Zeitraum wieder zurückkehrten. Die Zahl der Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland stieg auf vier Millionen. Es entstanden enge transnationale Beziehungen zwischen Deutschland und den Herkunftsländern, ganz besonders auch mit der Türkei. Faktisch hat sich die Gesellschaft Deutschlands im Zuge dieser Arbeitsmigration und der dann oftmals folgenden Familienmigration deutlich gewandelt. Dabei trug gerade auch die türkeistämmige Bevölkerung maßgeblich zur sozialen, kulturellen und religiösen Pluralisierung der Gesellschaft bei.

Trotzdem hielt Deutschland lange an der Vorstellung fest, kein Einwanderungsland zu sein. Dieses politische Leitbild galt bis Anfang der 2000er Jahre und es führte dazu, dass es über 40 Jahre keine systematische Migrations- und Integrationspolitik gab. Migration wurde über all die Jahrzehnte nicht gesellschaftlich gestaltet, Integration und Teilhabe wurde institutionell nicht unterstützt. Erst mit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes 2000 und der Einführung der Integrationskurse 2005 änderte sich das. Diese Versäumnisse wirken bis heute nach und zeigen sich in strukturellen Exklusionserfahrungen der ersten und der nachfolgenden Generationen, in komplexen Konflikten um Zugehörigkeit und Identität, nicht zuletzt in Erfahrungen von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt in den 1980er- und 1990er Jahren und Diskriminierung und Rassismus bis heute.

Die Abkommen vor über 60 Jahren veränderten die Bundesrepublik also nachhaltig. Aber trotz dieser langen Geschichte der Migration fehlt bis heute oftmals die Selbstverständlichkeit im Umgang mit Migration und ein Selbstverständnis als Migrationsgesellschaft, die sich eigentlich schon im Zuge der Abkommen damals hätte entwickeln müssen.

Wie hat sich die deutsche Migrationspolitik seit den 1960er-Jahren verändert – und welche Kontinuitäten bestehen bis heute?

In der Migrationsforschung teilen wir die Zeit in verschiedene Phasen ein. Die Anwerbephase von 1955 bis 1973 war charakterisiert durch Arbeitsmigration, verstanden als temporäre Arbeitskraftmobilität, ohne Anerkennung der faktisch stattfindenden Einwanderung. Die Zeit bis 1989 war dann gekennzeichnet von dem Wunsch der Vermeidung dauerhafter Zuwanderung. Politische Maßnahmen zielten auf Rückkehrförderung, während gleichzeitig durch Familiennachzug und Familiengründungen wie auch politische Fluchtmigration die migrantische Bevölkerung wuchs. Anfang der 1990er Jahre gab es viele Zuzüge von (Spät-)Aussiedlern und auch Bürgerkriegsflüchtlingen; der Asylkompromiss 1993 schränkte das Grundrecht auf Asyl massiv ein. Anfang der 2000er Jahre wurde Integration politisch aufgegriffen und es gab erstmals nach den Anwerbeabkommen wieder eine gezielte Zuwanderungspolitik, eine Öffnung z.B. für hochqualifizierte Fachkräfte. Diese Zeit war geprägt von dem Versuch, Zuwanderung gezielt zu steuern, auch die Migration im Rahmen der EU-Freizügigkeit, die bis heute durchweg den größten Anteil an Migration nach Deutschland ausmacht. Über all die Jahre blieb die Debatte um Migration aber polarisiert. Das haben wir auch 2015 erlebt, im Zuge des „langen Sommers der Migration“ und der Zuwanderung aus der Ukraine.

Neben einer Willkommenskultur, die viele Menschen von Deutschland und auch viele Deutsche selbst gar nicht erwartet hätten, gab es zugleich wieder auch die Rufe nach Begrenzung. Diese wurden umgesetzt sich in einer verschärften Asyl- und Rückführungspolitik und verstärkter EU-Außengrenzkontrolle, während zugleich z.B. mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz eine gezielte Anwerbung von Drittstaatsangehörigen stattfindet und Migrationsabkommen für weitere Arbeitsmigration abgeschlossen werden.

Insofern ist die Migrationspolitik seit den Anwerbeverträgen deutlich komplexer geworden. Dabei bleibt eine Grundspannung und Ambivalenz auch in den aktuellen Diskursen und Gesetzgebungen, die sowohl der ökonomischen Nützlichkeitslogik („Wir brauchen Einwanderung“) und der grundgesetzlich verankerten humanitären Verpflichtung folgen, aber zugleich geprägt sind von starker Abschottung, der Realisierung von Abschiebungen und Beschränkungen bei Migration und Teilhabe.

Inwiefern prägt die Geschichte der „Gastarbeit“ noch immer politische Debatten über Zugehörigkeit, Identität und Teilhabe in der Bundesrepublik?

Ich denke, dass die anfängliche Weigerung, Einwanderung als dauerhafte Realität anzuerkennen, bis heute nachwirkt. Dabei hat die „Gastarbeitergeschichte“ Migration zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Realität in Deutschland gemacht. Wir sind eine Migrationsgesellschaft, eine plurale Einwanderungsgesellschaft. Hilfreich ist da auch das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft. Migration und damit verbundener gesellschaftlicher Wandel sind Normalität; Migration ist dauerhafter, strukturprägender Bestandteil moderner Gesellschaften wie der deutschen. Die Aushandlung von Zugehörigkeit, Identität und Teilhabe ist gemeinsame Aufgabe aller Mitglieder der pluralen Gesellschaft. Vielfalt muss nicht aufgelöst oder überwunden, sondern politisch und sozial gestaltet werden. Dies anzuerkennen fällt vielen immer noch schwer. Es finden sich viele sprachliche und sichtbare Symbole für Ausschlüsse. Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte wird die Zugehörigkeit abgesprochen, selbst ihre Nachkommenin der dritten und vierten Generation erleben subtile oder sehr manifeste Formen der Ausgrenzung. Viele Diskurse um Werte, Religion, nationale Identität, auch die aktuellen Diskussionen um das Stadtbild, greifen Erfahrungen aus frühen Jahren auf und spiegeln alte Muster von Abgrenzung und Anpassungserwartungen. Es ist gut zu sehen, dass es aktuell viel und auch sehr kreativen Protest gibt. Diese wiederholten migrationsfeindlichen Debatten, die wir in den letzten Jahren erleben, zeigen, wie gesellschaftliche Probleme, die es ja durchaus gibt, unzulässigerweise auf Migration verkürzt werden. Hier sind Fragen der sozialen Ungleichheit, der Armut, der Wohnungsknappheit, der Finanzierung und der Organisation des Bildungs- und des Gesundheitssystems und vor allem auch der Verschuldung der Kommunen viel elementarer.

Welche Lehren lassen sich aus dem Umgang mit der sogenannten ersten Gastarbeitergeneration für die Gestaltung zukünftiger Migrations- und Integrationspolitik ziehen?

Migration sollte nicht als vorübergehendes Phänomen gesehen werden, sondern als potenziell dauerhafte gesellschaftliche Realität. Dazu zählt auch die Ermöglichung von Integration und Teilhabe als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, durch Sprachförderung, gute Bildung, Antidiskriminierung oder Formen der politischen Teilhabe. Sie müssen von Anfang an strukturell verankert sein, statt wenn überhaupt erst nachträglichzu erfolgen. Da wurde in den vergangenen Jahrzehnten viel versäumt. Außerdem sind Migrantinnen und Migranten nicht nur Arbeitskräfte, sondern Menschen, wie Max Frisch in seinem bekannten Zitat formulierte. Sie sind gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft, mit Rechten, Kompetenzen, mit sprachlich-kulturellen und vielen anderen Ressourcen, die sie beitragen können. Eine gute Teilhabepolitik erkennt migrantische, kulturelle Pluralität als Bereicherung und Grundlage gesellschaftlicher Innovation – und nicht als Bedrohung. Migration ist als gestaltbare, dauerhafte und gemeinsame Zukunftsaufgabe zu begreifen, nicht als temporäre Ausnahme, wie man damals dachte.

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