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„Nur gemeinsam können wir eine bessere, gerechtere Gesellschaft gestalten“

Serpil Temiz Unvar ist die Mutter von Ferhat Unvar, einem der jungen Menschen, die bei dem rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 ermordet wurden. Nach dem tragischen Verlust ihres Sohnes gründete sie im November 2020 die „Ferhat Unvar Bildungsinitiative“, um gegen Rassismus und Diskriminierung vorzugehen und junge Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu unterstützen. Zum 5. Jahrestag des Anschlags von Hanau haben wir mit ihr darüber gesprochen, was sich seitdem verändert hat und was nicht.

Eren Okcu

Frau Temiz Unvar, wie erleben Sie den 5. Jahrestag des Anschlags von Hanau persönlich?

Die Tage vor den Jahrestagen fühlen sich für mich jedes Jahr anders an. Meine Gedanken gehen immer wieder zurück zum 19. Februar 2020. Es ist sehr traurig, und was es noch schwerer macht, ist die Tatsache, dass es bis heute keine wirkliche Aufklärung und Gerechtigkeit gibt – obwohl wir als Familien, aber auch als Gesellschaft, so viel dafür getan haben. Trotzdem muss ich sagen, dass wir auch einiges erreicht haben. Der 5. Jahrestag fühlt sich besonders an, weil kurz danach eine Bundestagswahl stattfindet. Dadurch ist die Aufmerksamkeit von Politik und Medien dieses Jahr deutlich höher.

Welche Lehren sollte die Gesellschaft aus dem Anschlag ziehen?

Die wichtigste Lehre aus dem Anschlag für mich ist, dass es ohne Kampf keine Gerechtigkeit geben kann. Das habe ich leider persönlich am eigenen Leib erfahren müssen, vor allem in Hanau. Die letzten fünf Jahre haben auch den Angehörigen viele Dinge beigebracht. Was für mich am wichtigsten ist, ist die gesellschaftliche Unterstützung. Sie war der Schlüssel, damit wir Anerkennung erhalten konnten. Ohne diese Unterstützung wäre es nicht so einfach gewesen, die Geschehnisse in Hanau überhaupt in die Öffentlichkeit zu tragen. Von Anfang an haben wir den Namen des Täters nicht genannt, sondern die Namen der Opfer in den Mittelpunkt gestellt – damit sie lebendig bleiben. Ich denke, das haben wir erreicht.

Alle wichtigen gesellschaftlichen Änderungen wurden von der Masse erkämpft, und nichts wurde uns geschenkt. Daher sollten wir als Gesellschaft gegen den Rassismus, aber auch gegen alle anderen menschenfeindlichen Ideologien kämpfen. Und das nicht nur als Menschen mit Migrationshintergrund, sondern als Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Denn das Problem Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir werden uns ihm gesamtgesellschaftlich entgegenstellen.

Wie beurteilen Sie die politische und gesellschaftliche Aufarbeitung der letzten fünf Jahre?

Die Ermittlungsverfahren wurden bereits im Jahr 2021 eingestellt und es gab keine Konsequenzen. Auf der politischen Ebene gab es also keine wirkliche Aufarbeitung im positiven Sinne. Als Gesellschaft jedoch war der Zusammenhalt sehr stark. Es gab jedes Jahr zum Jahrestag dezentral viele Demonstrationen in etwa 100 Orten am 19. Februar. Dieser Tag des rassistischen Anschlags hat sich zu einem Aktionstag gegen Rassismus entwickelt. Doch leider war das nicht genug. Das sehen wir besonders in der politischen Lage, die nach wie vor nicht ausreichend auf das Thema Rassismus und Diskriminierung eingeht. Wir müssen weiterhin konstruktiv für ein Land ohne Rassismus und Diskriminierung kämpfen. Wir tun das mit der Bildungsinitiative, die den Namen meines Sohnes, Ferhat Unvar, trägt. Wir sind in der politischen Bildung tätig und erreichen bundesweit viele junge Menschen, die wir über Rassismus und Diskriminierung aufklären, indem wir über die Geschehnisse sprechen und auch darüber, wie es anders sein könnte.

Gesellschaftlich steht noch viel vor uns. Wir müssen die Kräfte vereinen. Der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung ist kein isoliertes Thema. Es betrifft alles – von Frauenunterdrückung über antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus bis hin zu sozialen Kämpfen. Nur so können wir eine Synergie erzeugen und noch stärker und entschlossener für eine bessere Zukunft kämpfen.

Mit Blick auf den aktuellen Rechtsruck in Deutschland: Was braucht es jetzt, um der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken?

Rassismus ist ein Angriff auf unser Zusammenleben. Rassismus und Nationalismus versuchen, die Gesellschaft zu spalten. Wir müssen gegen diese Spaltung kämpfen und das friedliche Miteinander verteidigen, egal ob es um Religion, Ethnien oder Herkunft geht. Dabei sollten wir nicht nur gegen Missstände kämpfen, die uns persönlich betreffen, sondern auch solidarisch mit denen stehen, die nicht direkt betroffen sind, aber von gesellschaftlicher Spaltung und Diskriminierung betroffen sind. Nur so können wir auch diejenigen erreichen, die sich nicht direkt mit Rassismus auseinandersetzen müssen, aber dennoch Teil der Lösung sein können.

Der aktuelle Rechtsruck wird leider meistens auf drei Buchstaben reduziert. Das ist ein zentrales Problem, aber wir dürfen nicht nur die Folgen sehen, sondern müssen auch die Ursachen ansprechen und bekämpfen. Wir sollten uns fragen, warum rechte Parteien vor zehn Jahren noch nicht zu den zwei stärksten Parteien gehörten. Der Rechtspopulismus hat es leider geschafft, Krisenzeiten zu nutzen und Menschen mit einfachen, falschen Antworten zu manipulieren. Vor 90 Jahren waren es die jüdischen Menschen, die für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich gemacht wurden, heute sind es Geflüchtete und Muslime. Diese einfachen, falschen Antworten machen es Rassisten leicht, die Gesellschaft zu spalten. Wir wissen, dass es schwieriger ist, die Ursachen zu erklären, und dass es Mühe kostet. Aber gerade deshalb müssen wir mehr tun als diejenigen, die uns spalten wollen. Nur gemeinsam können wir eine bessere, gerechtere Gesellschaft gestalten.

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