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Warum wir heute auch noch von Arbeiterklasse sprechen

Alev Bahadir

Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Zu ihren Publikationen und Vorträgen gehören Themen wie Digitalisierung, betriebliche Kämpfe oder gesundheitliche Folgen von Massenarbeitslosigkeit und Sozialpolitik. Wir haben uns mit ihr über die Klassenfrage unterhalten.

Foto: sofi.uni-goettingen.de

Was verstehen wir unter Klasse?

Klasse ist ein sehr vielschichtiger Begriff. Am besten kommt man da dran, wenn man sich an den Überlegungen von Marx und Engels orientiert, die im Grunde genommen sagen: es gibt im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zwei große Gruppen, die sich gegenüberstehen. Kapital und Arbeit. Das sind zunächst einmal die Klassen. Die unterscheiden sich durch ihre unterschiedlichen Interessen. Die einen wollen Arbeitskraft kaufen und einsetzen im Produktionsprozess, um Waren zu produzieren, Mehrwert zu schaffen und Profit zu machen. Die anderen müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, weil sie nichts anderes zum Verkaufen haben. Arbeit und Kapital stehen sich also mit unterschiedlichen Interessen gegenüber, sind aber aufeinander angewiesen. Das ist der Zusammenhang, in dem wir über Arbeiterklasse sprechen. Dieser grundlegende Unterschied, ob man darauf angewiesen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, an der die eigene Existenz, das Einkommen und die soziale Absicherung hängt, oder eben nicht, prägt bis heute die Gesellschaft. Es macht deshalb Sinn, auch heute von einer arbeitenden Klasse zu sprechen.  

Aber warum wird der Begriff dann vermieden?

Ob man den Begriff Klasse benutzt, ist nicht nur ein wissenschaftliches Problem. Es ging nie nur darum zu verstehen, wie Gesellschaft aufgebaut ist. Es ging auch immer darum, in Bezug auf Klasse, ein politisches Programm zu definieren. Klassenpolitik war immer ein Begriff, der dazu gedient hat, gegen Ungerechtigkeiten, die aus dieser Gesellschaft herrühren, vorzugehen. In Deutschland war es so, dass die sozialen Kräfte, die sich Klassenpolitik auf die Fahne geschrieben hatten, spätestens im Nationalsozialismus enorm unter Druck gekommen sind. Die Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften usw. wurden von den Nationalsozialisten bekämpft, ihre Organisationen zerschlagen, die Trägerinnen und Träger größtenteils umgebracht. Nach dem 2. Weltkrieg wollte man an der kämpferischen Tradition von Klassenpolitik, die man aus dem 19. Jahrhundert und vor 1933 hatte, nicht mehr so gerne anknüpfen. Man wollte auch an die großen Unterschiede, die es in der Gesellschaft gab, nicht unbedingt erinnern. Man hat aufgehört über Klasse zu reden

Auch wenn es oft nicht so bezeichnet wird, woran merken wir, dass es Klassen gibt und dass wir auch einer Klasse – in unserem Fall der Arbeiterklasse – zugehörig sind?

Wenn wir den traditionellen Klassenbegriff zugrunde legen, müssen wir eigentlich schauen, was man denn tut, um sein Geld zu verdienen. Verkauft man seine Arbeitskraft – ja oder nein? Wenn ja, wenn man arbeiten geht und abhängig beschäftigt ist, dann spricht das stark für die Zugehörigkeit zur arbeitenden Klasse. Wenn nein, dann entsprechend nicht. Natürlich müssen wir dann über Differenzierungen innerhalb des Klassenbegriffs sprechen. Wenn man sagt, alle Lohnabhängigen gehören zur arbeitenden Klasse, dann ist das ein sehr großer Teil der Bevölkerung. Denn die Zahl der Lohnabhängigen ist über die letzten Jahrzehnte massiv gestiegen. Ein großer Teil dieser arbeitenden Klasse ist zum Beispiel im Bereich der geringqualifizierten Dienstleistungen tätig. In der Sozialwissenschaft reden wir manchmal von prekärer Beschäftigung, unsicherer Beschäftigung. Mit unsicheren Verträgen, schlechter materieller Ausstattung, oft ohne Einschluss in die Sozialversicherung. Das sind klassische Bedingungen, die auch früher die Existenz von Arbeiterinnen- und Arbeitern geprägt haben. Aber auch in besser bezahlten und qualifizierten Bereichen haben wir abhängige Beschäftigung, was bedeutet, dass man eben nicht sein eigener Herr oder eigene Herrin ist.

Ist die Arbeiterklasse gespalten?

Die arbeitende Klasse war nie einheitlich oder einig. Weil wir im Kapitalismus leben, und dieser beruht auf Unterschiedlichkeiten und Konkurrenz. Das ganze Wirtschaftssystem bezieht seinen Lebensgeist daraus, dass unterschiedliche Firmen gegeneinander antreten, dass man Standorte von Firmen gegeneinander antreten lässt. Dass man unterschiedliche Nationalstaaten gegeneinander in Konkurrenz bringt. Auch bei denjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, ist Konkurrenz das zu Grunde liegende Prinzip. Wir konkurrieren um Arbeitsplätze. Wir konkurrieren darum, durch Lohnarbeit unsere Existenz zu sichern. Da geht es darum, Solidarität herzustellen, die es möglich macht, gemeinsam für gemeinsame Interessen einzutreten. Das Konkurrenzsystem wird aktiv geschürt von Unternehmen. Indem man z.B. einen Teil der Beschäftigten auf einigermaßen festen Stellen einsetzt und  dann auf der anderen Seite Leiharbeiter, befristet Beschäftigte, Werkvertragsabnehmerinnen und –abnehmer ins Unternehmen holt. So was ähnliches gibt es auch in Bezug auf ethnische Herkunft, auf Migrationsstatus. Damit steigert man die Konkurrenz unter Arbeitenden, weil man so auch diejenigen, die z.B. keinen Migrationsstatus haben, die eigentlich besser abgesichert sind, unter Druck setzen kann. Sie akzeptieren dann Bedingungen, die sie sonst unter gar keinen Umständen akzeptieren würden. Diese Art von Spaltungstendenzen haben wir die ganze Zeit. Rechte Parteien versuchen darauf aufzubauen. Ich glaube, dass das nicht etwas ist, was aus den Betrieben kommt, sondern in die Betriebe reingetragen wird. 

Wie rücken wir die Klassenfrage wieder in den Vordergrund? Auch als zentralen Aspekt unserer Identität?

Wenn man sich die Geschichte anschaut, dann war die Tatsache, dass es gemeinsame Arbeits- und Lebenswirklichkeiten oder Interessen gab, nie genug. Die objektive Gemeinsamkeit war nie das, was den Ausschlag gegeben hat, weil die Konkurrenzbeziehungen zu stark sind. Was es braucht, um über diese hinwegzukommen, ist eine Politik, die das Gemeinsame betont und auch die Erfahrung verbreitet, dass man gemeinsame Interessen hat. Das heißt, man braucht eine politische Bewegung, die Klassenpolitik betreibt. Man braucht auch Projekte, an denen man Klassenpolitik festmachen kann. Die Frage ist, wie schafft man es durch seine politische Aktivität die Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. In den letzten Jahren spielten da die neuen Initiativen von einigen Gewerkschaften eine relativ große Rolle. Z.B Stammbelegschaft und Randbelegschaft zusammen zu organisieren. Also zu sagen, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter genauso Beschäftigte sind, die organisiert werden müssen. Diese Tendenz, Beschäftigte gegeneinander auszuspielen und somit die Bedingungen für alle zu verschlechtern, ist sonst nicht zu brechen.

 

https://www.sofi.uni-goettingen.de/nc/personen/detail/name/nicole-mayer-ahuja/

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