Je näher die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 14. Mai rücken, desto mehr werden sie auch in Deutschland zum Thema werden. Es gibt 3 Millionen sogenannte „Auslandstürken“, die wahlberechrigt sind. Knapp 1,4 Millionen von ihnen lebt in Deutschland. Die Türkeistämmigen in Deutschland sind für Erdoǧan schon lange nicht mehr nur noch eine Devisenquelle durch überhöhte Pass- und Verwaltungsgebühren oder Ablösegelder um den Militärdienst zu verkürzen. Hier ist genug Wählerpotential vorhanden und zwar teilweise wesentlich größer, als manche Metropolregion auf türkischem Staatsterritorium.
Die türkische Lobby in Deutschland
Und von der politischen Tendenz her entspricht ein Teil der „Deutschländer“ dem AKP-Klientel. Bei der letzten Präsidentenwahl im Jahr 2018 gingen 65 % der abgegeben Stimmen aus Deutschland an Erdoǧan. Im Vergleich: bei Wählern in der Türkei konnte er „nur“ 53 % auf sich vereinigen. Um dieses Potential weiß die Lobby des türkischen Staats in Deutschland nur zu gut und setzt alle Kräfte daran, Stimmen für die AKP zu sammeln. Hier sind ein paar Organisationen herauszustellen: die Union Internationaler Demokraten (UID, früher UETD). Der Lobbyverband organisiert den Großteil der Wahlkampfveranstaltungen mit Vertretern der AKP in Deutschland. 124 Abgeordnete und 25 Bürgermeister seien nach Angaben der UID in Europa auf solchen Veranstaltungen gewesen, allein bis Ende 2022. Viele dieser Wahlkampfveranstaltungen, die offiziell als „Kultur-„ oder „Gedenkveranstaltungen“ benannt werden, werden in Kooperation mit der Moscheegemeinde DITIB (670 gemeinsame Veranstaltungen), die direkt dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) in der Türkei unterstellt ist und auch mit Organisationen, die den „Grauen Wölfen“ (62 gemeinsame Aktivitäten) zuzuordnen sind, durchgeführt. Solche Veranstaltungen laufen selbstverständlich keinesfalls harmlos ab. So hatte der AKP Politiker Mustafa Açıkgöz im Januar in einer Moschee der Grauen Wölfe eine Hassrede gehalten, in der er davon sprach, die politischen Gegner, namentlich die Organisation um Fetullah-Gülen (auch FETÖ – „Fetullah Terrororganisation“) und die kurdische PKK, zu „vernichten“. Daraufhin wurde der türkische Botschafter ins Auswärtige Amt bestellt, Erdoǧan musste eine geplante Deutschlandreise absagen. Auch in der Vergangenheit wurden türkischen Politikern in Deutschland Wahlkampfauftritte untersagt, aufgrund der explosiven Stimmung. Auch wenn mehrere Veranstaltungen in andere europäische Länder verlegt werden sollten, ist keinesfalls damit zu rechnen, dass die AKP Deutschland, ihr wichtigstes Pferd im ausländischen Stall, links liegen lassen wird. Daher werden die kommenden Veranstaltungen einfach als „Treffen mit Bürgern“, oder eben Kultur- und Gedenkveranstaltungen verkauft. Mehrere Veranstaltungen mit Politikern oder Musikern und Youtubern sind bereits geplant.
„Befreit von den Ketten des Westens“ und „assimiliert euch nicht“
Die Auftritte Erdoǧans in Deutschland sind vielen sicherlich im Gedächtnis geblieben. Vor Zehntausende forderte er 2010 in Köln auf, sich zwar in Deutschland zu integrieren, aber keinesfalls zu assimilieren, Türken zu bleiben und die Interessen der Türkei in Deutschland zu verfolgen. Auch jetzt spricht er davon, dass es bei den Wahlen im Mai um die Unabhängigkeit der Türkei ginge und man sich von den Ketten des Westens zu befreien habe. Das Narrativ, man sei das einzige Bollwerk gegen die Macht des Westens, während man gleichzeitig ausländische Investitionen begrüßt und eine Mitgliedschaft im westlichen Kriegsbündnis NATO hat, wird schließlich nie alt. Was fehlt, sind wie immer die tatsächlichen Inhalte. Kein Wort über die Inflation, die Millionen unter das Existenzminimum reißt, kein Wort darüber, wie man die vom Erdbeben betroffenen Menschen unterstützen möchte. Kein Wort darüber, wohin die Erdbebensteuern gegangen sind, die nie notwendiger waren, als jetzt. Die AKP versteht sich bestens darauf, sich halt als „großer Macher“ zu präsentieren. Die Lobbyorganisationen, sowie die türkischen Medien, die ebenfalls in Deutschland empfangen, angesehen und gelesen werden, bestärken dieses Bild zusätzlich.
Türkeistämmige in Deutschland
Erdoǧan hat viele Probleme im eigenen Land. Die Inflation und die Folgen und der Umgang mit der Erdbebenkatastrophe haben ihn viele Sympathiepunkte gekostet. Die dauerhafte Unterdrückung der Opposition, die Schlechterstellung der Frau, die Verarmung der Bevölkerung, während sich das Bürgertum und AKP-Abgeordnete immer weiter bereichern, gehen nicht spurlos an den Menschen vorbei. Umso wichtiger sind die Wählerstimmen in Deutschland.
Es sind Menschen, die bei Wahlen in Deutschland nicht mitbestimmen dürfen, die jahrelang ignoriert und als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, die öfter im Niedriglohnsektor und in prekärer Beschäftigung sind, als ihre deutschen Kollegen. Sie lassen sich von der türkischen Lobby in Deutschland beeinflussen.
Doch auch hier steigt die Stimmung gegen die Ein-Mann-Herrschaft Erdoǧans. Die Türkeistämmigen in Deutschland sind kein Spielball, den die Bundesregierung und die türkische Regierung abwechselnd benutzen können, wenn ihnen danach ist. Im Sinne der internationalen Solidarität ist es jetzt unumgänglich für die türkischen Staatsbürger in Deutschland die Demokratiebewegung in der Türkei zu unterstützen und ihre Stimme an fortschrittliche Wahlbündnisse, wie das Bündnis für Arbeit und Freiheit zu geben.