Moshe Zuckermann ist Soziologe und emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Zuckermann hat mehrere Bücher verfasst, die sich kritisch mit der Politik der israelischen Regierung auseinandersetzen. Als Kritiker der israelischen Siedlungspolitik war Zuckermann, dessen Eltern den Holocaust überlebten, immer wieder Anfeindungen, u.a. auch selbst Antisemitismusvorwürfen, ausgesetzt. Der linke Autor lebt und engagiert sich weiterhin in Tel Aviv. Wir haben mit ihm über die aktuellen Proteste in Israel und deren Bedeutung gesprochen.
Alev Bahadır
Die Justizreform in Israel ist aktuell überall Thema, was ist der Kern der umstrittenen Reform und welche Seiten stehen sich gegenüber?
Die Justizreform in Israel ist keine Justizreform, sondern ein Staatstreich, bei dem es der Regierungskoalition darum geht, das Justizsystem Israels auszuhöhlen, mithin die Gewaltenteilung aufzulösen, indem die Judikative de facto der Exekutiven unterstellt wird. Hauptbeweggrund dafür ist das Privatinteresse des der Korruption, der Veruntreuung und des Betrugs angeklagten israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, seinem bereits angelaufenen Prozess und der möglichen Verurteilung (zur Gefängnisstrafe) auf diesem “legalen” Weg zu entkommen. Seine Koalitionspartner sind an der “Reform” interessiert, weil die orthodoxen Parteien die völlige Freistellung orthodoxer Juden vom Militär (der in Israel für alle verpflichtend ist) und die Vollfinanzierung ihres eigenen (beschränkten) Erziehungssystems erwirken wollen. Die nationalreligiösen Parteien sind vor allem bestrebt, Vollmachten zu erlangen, um die erweiterte Besiedlung des Westjordanlandes bis hin zur Annexion und die Bekämpfung von “Linken” und Arabern unbeschränkt betreiben zu können. Dem stellt sich ein zivilgesellschaftlich orientierter Zusammenschluss verschiedener Organisationen, Bewegungen und freier BürgerInnen entgegen, mit dem Ziel, die Verwandlung dessen, was sie für Demokratie erachten, in eine faschistische Diktatur zu verhindern.
Warum haben Netanjahu (der ja nicht zum ersten Mal regiert) und seine Regierung ausgerechnet jetzt geplant, die Justizreform durchzusetzen?
Weil er in den vergangenen Wahlgängen nicht die nötige Mehrheit hatte, um sich so eine rechte bzw. rechtsradikale Koalition zurechtzubasteln. Gewollt hat er dies schon lange. Vor allem aber sein heutiger Justizminister Yariv Levin arbeitet an diesem Plan schon seit vielen Jahren, und zwar aus ideologischen Gründen – er meint, um effektiv regieren zu können, muss die Justiz, die (vor allem der Oberste Gerichtshof) Beschränkungen auferlegen kann, geschwächt bzw. ausgehöhlt werden.
Wie ist die Kritik durch die USA am sonst unkritisierten Partner Israel zu werten? Geht es hier wirklich um ein Demokratieproblem?
Die vom amerikanischen Präsidenten Joe Biden geäußerte Kritik ist in der Tat präzedenzlos in den bisherigen Beziehungen zwischen den USA und Israel. Ob es um Demokratie geht, hängt davon ab, was man unter Demokratie versteht. Israel ist m.E. schon lange vor der gegenwärtigen Krise keine Demokratie gewesen. Man kann nicht jahrzehntelang ein brutales Okkupationsregime betreiben und zugleich beanspruchen, eine Demokratie zu sein. Was sich aber im Rahmen der gängigen formalen Demokratie zur Zeit in Israel zuträgt, ist eher den Entwicklungen in Polen und Ungarn vergleichbar. Es handelt sich tendenziell um einen Übergang zur Autokratie bzw. Diktatur, der in Israel, zumindest durch die Koalitionspartner, auch von theokratischen Bestrebungen beseelt ist. Unter dem Republikaner Trump war das kein Problem. Dem Demokraten Biden ist das zuwider. In keinem Fall handelt es sich aber um eine Demokratie in einem tieferen Sinne.
Nach heftigen Protesten wurde die Justizreform zunächst „auf Eis gelegt“. In Deutschland herrscht oft das Bild, dass sich in Israel alle einig und mit der Regierungspolitik einverstanden seien. Welche Bevölkerungsgruppen sind an den Protesten beteiligt? War es die linke Opposition, die die Proteste angeführt hat? Wie steht es um sie?
Was man sich in Deutschland für Vorstellungen über Israel macht, ist nicht der Rede wert. Man sieht Israel, wie man Israel sehen will, was viel mehr mit deutschen Befindlichkeiten als mit der Realität Israels zu tun hat. Dass sich aber in Israel alle mit der Regierungspolitik einverstanden erklären, kann selbst in Deutschland nicht ernsthaft angenommen werden. An den Protesten sind ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen beteiligt. Es ist leichter anzuzeigen, wer nicht an ihnen beteiligt ist: Das sind generell gesehen, wie oben dargelegt, die orthodoxen und die nationalreligiösen Gruppen. Aus anderen Gründen sind auch die israelischen Araber nicht an den Demonstrationen beteiligt. Was aber die jüdischen Bürger des Landes anbelangt, herrscht ein Konsens, der – ungeachtet der unterschiedlichen Parteiprogramme – von allen zionistischen Parteien geteilt wird: die Okkupation wird nicht thematisiert bzw. angerührt, geschweige denn eine reale Friedensinitiative angetrieben.
Kann diese Bewegung Israel demokratisieren und Frieden mit Palästina schaffen?
Das ist die große Frage. Es handelt sich zweifellos um eine beeindruckende Protestwelle mit Energien und Verve, die eine neue Qualität geschaffen hat. Ob diese in Richtung einer emanzipativen Lösung des jahrzehntelangen Konflikts mit den Palästinensern kanalisiert werden kann, wage ich nicht zu prognostizieren. Es gibt nicht wenige unter den protestierenden Kollegen und Kolleginnen, die meinen, etwas in diese Richtung gewittert zu haben. Ich bin da eher skeptisch. Ich wüsste, offen gestanden, auch nicht, wie diese Lösung unter den strukturellen (und materiellen) Bedingungen, die sich in den letzten Jahrzehnten etabliert und verfestigt haben, auszusehen hätte, zumindest nicht, wenn es um die Zweistaaten-Lösung geht.