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„Wir haben es geschafft“

Sidar Carman

„Wir haben es geschafft.“ – unter den müden Augen des Lagerarbeiters breitet sich ein großes Lächeln aus. Es ist ein unbeschreiblich glücklicher Moment für uns alle. Der Weg war nun frei, um die ersehnte Mitbestimmung der Arbeiter und Angestellten in den Betrieb zu holen.

Wir stehen im großen Raum des zweiten Stocks eines Großhandelsbetriebs im Stuttgarter Osten, mittendrin im Gewerbegebiet Gaisburg. Größere und mittlere Firmen und Unternehmen reihen sich hier eng aneinander des Neckars, direkt gegenüber dem Daimler Werk Untertürkheim. Mit der Umwandlung von Wohn- in Gewerbeflächen ab Ende der 1950´er Jahre hat es besonders eine Reihe von Lebensmittelgroßhändlern hier her verschlagen. Die „Gaisburg“ gehört damit heute zu den bedeutendsten Knotenpunkten für die Versorgung Stuttgarts und der Region mit Lebensmitteln.

Es war Anfang des Jahres, als sich ein junger Lagerarbeiter aus einem dieser Betriebe bei der Gewerkschaft ver.di meldete. „Wir wollen einen Betriebsrat gründen. Wir können nicht mehr!“ Was folgte, waren eine Reihe von Treffen und intensiven Gesprächen. Die Arbeitsbedingungen und ein aggressiver Arbeitgeber hatten den berechtigten Unmut der Arbeiter nicht nur zugespitzt, sondern ihnen auch bewusstgemacht, dass sie diesen Zustand ändern müssen. Die Arbeiter kamen nach einem meist 9 Stunden Arbeitstag ins Gewerkschaftshaus, zwar müde und erschöpft von der harten Arbeit. Aber mit so einer großen Freude und einem positiven Willen, so dass jedes Treffen zu einer Lehrstunde für mich als Gewerkschafterin wurde. Am Anfang kamen sie zu zweit. Später wuchs die Kerngruppe auf 5 Arbeiter und 2 Angestellte heran.

Zusammenhalten

Wir sprachen offen. Denn es ging nicht nur um den formalen Weg, einen Betriebsrat neu zu gründen. Sondern wie wir den Weg zur betrieblichen Organisierung gemeinsam beschreiten werden und was es dafür braucht: Zusammenhalt, Wille und ein Plan, der realistisch ist, sie schützt und dennoch handlungsfähig macht. Doch verlief alles einfach und laut Plan? Waren alle Ängste nur „kleine Nebenwirkungen“, die bspw. zwei junge Arbeiter verspürten, wenn herauskommen sollte, an was sie gerade schmiedeten? Gar der Verlust des Arbeitsplatzes, der – wie schlecht er auch sein sollte- die einzige Möglichkeit auf Lohn und damit auf Einkommen für ihre Familie ist. Hier bewies sich wieder einmal die große Fähigkeit der Arbeiter Solidarität zu zeigen, die ohne große Aufruhr innerhalb der Gruppe schnell und praktisch gelöst wurde. Denn die Gruppe hat ihre Stützen. Ein Arbeiter und eine Angestellte (die von den Arbeitern gewonnen wurde!), waren bereit, ihren Kopf zu riskieren und ihre Kollegen (vorerst) im Betrieb gedeckt zu halten.

„Wir sind ca. 50 Lagerarbeiter. Angestellte gibt es eher wenige. Im Lager arbeiten wir 5-6 Tage in der Woche, auch mal mehr als 10 Stunden am Tag. Unser Lohn liegt etwas über 2.000 Euro brutto im Monat. In einigen Monaten ruft der Chef uns auch am Sonntag rein. Unsere Knochen sind kaputt. Kollegen gehen, Kollegen kommen. Die Jungen kommen, wenn sie aber was anders gefunden haben, gehen sie. Wenn etwas im Lager nicht läuft, kommt der Chef und schreit uns an oder packt uns am Kragen.“

Wir befinden uns in einem stadtweit bekannten Großhandelsbetrieb, der mit Luxusprodukten handelt: Lebensmittel vom Feinsten für Kunden mit großem Geldbeutel. Wäre es vor der BR-Gründung zu einem Konflikt gekommen, hätten wir nur eine geringe Resonanz von einer Image- und Druckkampagne mittels einer Kundenöffentlichkeit erhoffen können. Eine Methode, die im Handel gerne angewendet wird: Betriebliche Themen und Forderungen werden an die Kunden getragen, um eine politische Öffentlichkeit zu schaffen und so den Druck auf das Unternehmen zu erhöhen. Es blieb dabei. Die Betriebsratsgründung musste innerbetrieblich organisiert werden. Die Frage, ob es uns gelingt oder nicht, wird sich dadurch entscheiden, ob das Lager zusammensteht oder nicht.

80% für Mitbestimmung

„Wir sind bereit. Es kann losgehen.“ Die Wahlversammlung wurde eingeleitet, der Arbeitgeber benachrichtigt. Eine Woche später und mehrere Briefe von der Stuttgarter Arbeitgeberkanzlei voller in der Tasche, stehen wir nun im zweiten Stock des Großhandelsbetriebs. Die Arbeiter und wir zwinkern uns heimlich zu. Der Raum ist voll und wir haben das erste Mal die Möglichkeit, alle Beschäftigten zu sehen, von denen wir vieles berichtet bekamen. Die Versammlung beginnt. Rund 40 Kolleg*innen sind im Raum. Die Wahl des Wahlvorstands wird eingeleitet: Vier Kandidat*innen, drei aus dem Lager, eine aus der Verwaltung. Alles Kolleg*innen, die die Wahl seit Monaten initiiert und vorbereitet haben. Die Stimmzettel werden eingesammelt und öffentlich ausgezählt. Wir fiebern mit. Und mit jedem Strich hinter den Namen verfestigt sich auch die Gewissheit: Wir haben den Rückhalt der Beschäftigten! Es ist vollbracht: Der Wahlvorstand wird überwältigender Mehrheit gewählt. Drei ordentliche Mitglieder erhalten über 80% der Stimmen. Das Wahlergebnis ist eindeutig, klar und unmissverständlich: In diesem Betrieb wird es zukünftig eine Mitbestimmung geben!

„Wir haben es geschafft“ – dieser Satz des Lagerarbeiters mag vielleicht einfach klingen, aber er verbirgt eine Reihe von wichtigen Erfahrungen und beschreibt einen Weg, der für sie unabdingbar wurde. Sie mussten sich organisieren, denn sie hatten Forderungen. Sie hielten zusammen und arbeiteten immer nach vorne gerichtet. Ein Betriebsrat muss her. Dieser kleine Teilerfolg hat sie ein kleines aber umso wichtiges Stück ihrem Ziel nähergebracht. Es ist ihr Erfolg, ihr eigenes Werk.

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