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Worin wird die gesellschaftliche Empörung münden?

Auch wenn sie in den einzelnen Ländern spezifische Besonderheiten aufweisen, lassen die zerstörerischen Folgen der Wirtschafts- und Sozialpolitik neue Protestbewegungen auf den Straßen entstehen. Die steigende Wut und die stärker werdende Tendenz, die Forderungen nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Straße zu tragen, lassen politische Strömungen jeglicher Couleur aufhorchen, sich mit ihnen auseinandersetzen und in die neuen Bewegungen zu intervenieren.

KEMAL DEMİRCİ

Frankreich, wo es in den vergangenen Jahren zu zahlreichen größeren Arbeiter- und Jungenddemonstrationen gekommen war, steht mit einem seit Wochen andauernden Wutausbruch wieder im Fokus. Die am 17. November gestarteten Proteste der „Gelbwesten“ gegen die Ökosteuer auf die Spritpreise waren der Auslöser für den Wutausbruch des französischen Volkes, das seine Unzufriedenheit auf der Straße artikuliert. Die Aktionen, an denen sich von Arbeitern bis zu Schülern verschiedene gesellschaftliche Gruppen beteiligen, erfassten schnell das ganze Land. Der furchtlose Präsident Macron, der sich zu Beginn als kompromissloser Vertreter von Konzernen aufgespielt hatte, und seine Regierung, mussten sich inzwischen „entschuldigen“ und zu manchem Kompromiss bereit erklären. Trotzdem sind die Proteste noch nicht gänzlich beendet.

Wie sich diese Volksbewegung weiterentwickeln oder wohin sie sich verwandeln wird, ist noch nicht absehbar. Ihre kurzfristigen ökonomisch-sozialen und politischen Folgen bleiben abzuwarten.

Allerdings kann man anhand bestehender Vorgaben eine Voraussage auf jeden Fall wagen: Macron als „Präsident der Reichen“, der seit seinem Amtsantritt in Bereichen wie Renten-, Sozial- und Arbeitslosenversicherung zahlreiche Sozialschnitte durchgesetzt hat, wird sich zum ersten Mal zurückhalten und einige seiner Pläne zurücknehmen müssen. Allein dieser Umstand ist als ein Erfolg der Volksbewegung anzusehen.

Es ist bekannt, dass sich die Beteiligten an einem Kampf während dieses Kampfes weiterentwickeln. Der Kampf in Frankreich und dessen Forderungen erreichten in den zurückliegenden Wochen immer breitere Kreise und die Arbeiter und andere gesellschaftliche Gruppen kamen sich näher. Es liegt auf der Hand, dass dies im Hinblick auf künftige Kämpfe äußerst wichtig sein wird.

DIE PROBLEME UND FORDERUNGEN SIND NICHT AUF FRANKREICH BEGRENZT

Der Wutausbruch stellte sich in Frankreich ein. Es ist aber offensichtlich, dass er sich nicht auf Frankreich beschränkt. Auch die herrschenden Kräfte nehmen die Entwicklungen als ein „französisches Problem“ wahr. Der Handelsblatt-Kolumnist Thomas Hanke, ein wichtiger Vertreter des Finanzkapitals, stellt zutreffenderweise fest, dass „sich niemand in Sicherheit wiegen sollte“. Die Probleme Macrons könnten sich rasant auch „zu Problemen der anderen entwickeln… Diejenigen, die zu wenig zum Leben und zu wenig zum Sterben verdienen, die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen könnten auch in anderen Ländern der EU den Aufstand wagen.“

Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte, die im ökonomisch-sozialen oder ökologischen Bereich weltweit Übergriffe vorsah, führte nicht nur in abhängigen, sondern auch in entwickelten kapitalistischen Ländern zur Vertiefung der Schlucht zwischen den sozialen Klassen. Diese Politik der Übergriffe traf weite Teile der Gesellschaft, vor allem die Arbeiter und Werktätigen, aber auch die Mittelklasse und das Kleinbürgertum.

Diese Wirtschaftspolitik führte nicht zu einer Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern auch zur Verstärkung der Unzufriedenheit, Empörung und Wut bei breiten Arbeiter- und Werktätigenmassen.

Auch wenn sie sich an einigen Stellen unterscheiden, bietet sich bei der Betrachtung der entwickelten kapitalistisch-imperialistischen Länder ausnahmslos folgendes gemeinsames Bild: auf der einen Seite die grenzenlosen Gewinne und Reichtümer der Konzerne und einer Hand voll Reicher. Auf der anderen Seite extrem-schwere Ausbeutungs- und Arbeitsbedingungen, Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Probleme beim Gesundheitssystem, der Umwelt und die systematische Beschneidung demokratischer Rechte und Freiheiten…

In der Tat sind weder die Probleme und Forderungen, noch die Unzufriedenheit und das Rumoren unter den Arbeitern und Werktätigen etwas spezifisch Französisches. So riefen z.B. in Belgien drei Gewerkschaften im Anschluss an die vier Wochen andauernden Proteste gegen das „Reform“-Paket der rechts-liberalen Regierung mit tiefgreifenden sozialen Einschnitten zu einem Generalstreik auf, der viele öffentliche Bereiche lahmlegte. Der Flämische Arbeitergeberverband VOKA warf den Gewerkschaften das „Spiel mit dem Feuer“ vor. Der Arbeitsminister Kris Peeters erklärte seine Bereitschaft zu Schritten für die Erhöhung der Kaufkraft, wenn die „Sozialpartner von Straßenaktionen absehen“. Auch in Deutschland kam es in den letzten Monaten vor dem zurückliegenden November zu landesweiten, regionalen und lokalen Aktionen von Netzwerken und Initiativen mit Zigtausenden Menschen aus verschiedenen Gesellschaftskreisen, bei denen es um die Durchsetzung vielfältigster Forderungen ging. Auch diese Aktionen waren Beispiele für die steigende Tendenz, dass Massen auf der Suche nach Möglichkeiten des Kampfes sind.

EINE NEUE ÄRA BEI SOZIALEN BEWEGUNGEN

Es liegt auf der Hand, dass der Wutausbruch in jedem einzelnen Land den Besonderheiten und konkreten Gegebenheiten entsprechend einen anderen Weg gehen wird. Abgesehen von den Besonderheiten zeigen die Beispiele in Frankreich und anderswo, dass im Hinblick auf die Arbeiter- und Massenbewegungen eine neue Ära ansteht.

In einer Phase, in der „das Alte im Sterben liegt, das Neue aber noch nicht geboren ist,“ in Zeiten, in denen die Werktätigen nicht nur in einer schwierigen ökonomisch-sozialen, sondern auch in einer Krise der politischen Kapitulation stecken, können sich manche Bewegungen, die sich an einem bestimmten Problem entzünden, über ihren Ausgangspunkt hinaus weiter entwickeln und Grenzen zu sozialen-politischen Bewegungen überschreiten. Die Bewegung der „Gelbwesten“, die ihren Ausgangspunkt weit überschritten, breitere Kreise umfasst und sich zu einem „sozialen Aufstand“ verwandelt hat, ist ein herausragendes Beispiel dafür. Wir treten in eine Phase ein, in der sich Beispiele für Widerstandsbewegungen mit erzielten Teilerfolgen anhäufen werden, die sich gegen einen konkreten Rechteabbau richten.

Die Arbeiter- und Werktätigenmassen blieben seit Jahrzehnten aus bekannten Gründen und Schwächen in der Defensive. Die Schwere der Bürde, die die herrschenden Bedingungen ihnen auferlegen, zwingt sie dazu, diese defensive Haltung abzulegen. Das wird allerdings nicht einfach und geräuschlos passieren. Aus ihrer oft zitierten Unzufriedenheit und Empörung sollten fortschrittliche Kräfte nicht den Schluss ziehen, eine den Wutausbruch abwartende Haltung einnehmen zu müssen. Vielmehr sollten sie Maßnahmen ergreifen, um Teil einer solchen Entwicklung zu werden und zur Lösung der erwarteten Schwierigkeiten beizutragen.

DIE ENTWICKLUNG VON KLASSENBEWUSSTSEIN UND ERFAHRUNGEN WIRD AUSSCHLAGGEBEND SEIN

Unter den heutigen Bedingungen darf man nicht mit einer grundlegenden Richtungsänderung bei der ökonomisch-sozialen Politik der Konzerne und Finanzoligarchie rechnen, solange es keine Verschiebung beim Kräfteverhältnis unter den Klassen gibt. Ansonsten würde man der Illusion verfallen, die die kleinbürgerlichen Reformer zu verbreiten versuchen. Selbst wenn kleinste Zugeständnisse wie in Frankreich gemacht werden, dienen sie dazu, die Bewegung im Zaum zu halten und die Fortsetzung ihrer eigenen Politik zu sichern. In der heutigen Zeit, in der der Konkurrenzkampf unter den Konzernen und Imperialisten immer stärker wird, müssen die Völker damit rechnen, dass nicht nur die Angriffe nach außen, sondern auch die ökonomischen, sozialen und politischen Übergriffe nach innen verstärkt werden.

Die Forderung und das Bedürfnis nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter und Werktätigen stehen also der Notwendigkeit von Konzernen und Imperialisten nach mehr Ausbeutung und Plünderung entgegen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit auszubauen. Die Arbeiter und Werktätigen stehen also vor einem schwierigen Kampf.

Aus diesen Schilderungen darf man natürlich nicht den Schluss ziehen, der Kampf um Teilforderungen oder erkämpfte kleine Zugeständnisse seien unwichtig. Ganz im Gegenteil dienen sie zur Überwindung der Spaltung in den Reihen der Arbeiter und Werktätigen. Sie tragen dazu bei, dass sie das Vertrauen in ihre eigene Kraft, ihr Klassenbewusstsein verstärken und den Kampf um größere Errungenschaften aufnehmen.

DAS BEDÜRFNIS NACH VEREINIGUNG UND GEMEINSAMEM HANDELN

Die zerstörerischen Folgen der imperialistisch-kapitalistischen Politik für breite Massen der Werktätigen und die damit einhergehende steigende Unzufriedenheit und Wut führen einerseits – wie beim Beispiel Frankreichs – zu Protestbewegungen. Zugleich bereiten sie den Boden für nationalistische, rechtspopulistische Bewegungen. Eine andere Folge ist, dass linke Sozialdemokraten auf der politischen Bühne sichtbarer werden und als eine politische Alternative auftreten. Frankreich und Deutschland bieten auch in dieser Hinsicht charakteristische Beispiele mit eigenen Besonderheiten.

Wie in vielen anderen Ländern war auch in Deutschland bei wesentlichen Teilen der Werktätigen entweder eine Entfernung von etablierten Parteien und ein Zulauf zur AfD zu verzeichnen, oder verstreut nahmen sie eine passive Haltung ein. In Zeiten, in denen sich die Arbeiterklasse nicht mit ihrer unabhängigen Politik einschaltet, die Bewegung relativ schwach und unorganisiert, die politische Stimmung dagegen systematisch vergiftet ist, ist ein solches Bild nicht verwunderlich. Die Frage ist, wie diese Situation überwunden werden kann.

Da kommt es erstens darauf an, richtige Antworten auf die Fragen zu geben, wie breiteste Kreise erreicht und die kämpferischsten Kräfte zusammengeführt werden können, welche Interventionsmittel Schritte für eine solche Arbeit notwendig sind. Und das Wichtigste wäre natürlich, nicht nur diese Fragen richtig zu beantworten, sondern auch in der Praxis eine entsprechende Haltung einzunehmen!

Die Initiative „Aufstehen“, deren Gründung Anfang September bekanntgegeben wurde, nimmt für sich in Anspruch, eine „Sammlungsbewegung“ zu sein. Bis heute registrierten sich online über 160.000 Menschen. Nach eigenen Angaben soll es inzwischen rund 100 lokale Gruppen geben. Die politische Losung dieser Sammlungsbewegung lautet: Für eine neue Sozialdemokratie!

Der Inhalt des Aufrufs, der einer politischen Plattform gleichkommt, ist entsprechend dieser Losung durch dieses klassische Verständnis von Sozialdemokratie gekennzeichnet. Deshalb beschränkt sich die Kritik auf die vom kapitalistischen System produzierten Resultate. Er hinterfragt nicht den Kapitalismus als solchen, sondern begnügt sich mit der Verteidigung eines „erneuerten Sozialstaats“.

So soll „nicht der Mensch für die Wirtschaft da sein, sondern die Wirtschaft für den Menschen“. Eine Reihe von Begriffen und Aussagen wie „der Mensch ist kein Kostenfaktor“ oder „soziale Gerechtigkeit“, „fairer Handel“, die mit der Natur von Kapitalismus und Imperialismus nicht im Einklang stehen, wird die Illusion verbreitet, der Kapitalismus könne „in ein soziales System verwandelt“ werden.

In dem Aufruf heißt es u.a.: „Es ist eine Lüge, wenn man uns erzählt, die aktuelle Politik sei im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung alternativlos. Wachsende Ungleichheit ist keine Naturgewalt. Der globalisierte Finanzkapitalismus, der Konzerne und Vermögende aus der sozialen Verantwortung entlässt, ist nicht Ergebnis technologischer Entwicklungen, sondern politischer Entscheidungen.”

Ja, darauf ist der Kern einer angeblich alternativen Politik reduziert werden. Die Einbeziehung von Konzernen, Reichen in die „soziale Verantwortung“!

Der Einwand gegen Waffenexporte wird auf „Krisengebiete“ beschränkt. Beim Einsatz für die Friedenspolitik findet die Forderung nach „Auflösung der NATO“ oder „Austritt aus der NATO“ keinen Platz…

Abschließend ist anzumerken, dass in dem Aufruf viele aktuelle Forderungen wie „sichere Arbeitsplätze“, „gute Löhne“, „anständige Rente“, „exzellente Bildung“ aufgezählt sind.

Dass die politische Plattform, die in Form eines Aufrufs vorgelegt wird, Illusionen über den Kapitalismus verbreitet und einen sozial-reformistischen Charakter aufweist, ist ein Aspekt des Problems. Ein anderer wichtiger Aspekt, der unter den konkreten Bedingungen unserer Zeit eine nicht minder wichtige Rolle spielt, liegt in der folgenden Frage: Wie weit wird „Aufstehen“ als eine Sammlungsbewegung Teil eines Kampfes sein, der sich an der Basis für das Organisieren eines Kampfes um aktuelle Forderungen einsetzt?

Wird sie tatsächlich eine Sammlungsbewegung sein, die sich für den Kampf um die Forderungen einsetzt? Das ist die eigentliche Frage. Viele Anzeichen sprechen für eine andere Entwicklungsrichtung: Mit der Losung „Für eine neue Politik. Für eine neue Regierung“ geht es ihr anscheinend vordergründig darum, die Grundlage für eine rot-rot-grüne Koalitionsregierung vorzubereiten. Die Arbeit an der „Basis“ ist damit verknüpft, diese Sicht zu verbreiten und die Parteien dazu zu überreden.

Diese Ansicht, die von Sahra Wagenknecht öfters geäußert wurde, wird auch von der Ko-Vorsitzenden der Linken Katja Kipping und anderen führenden Persönlichkeiten der Partei getragen.

Es ist bekannt, wofür alles die SPD und Grüne verantwortlich zeichnen. Ist es unter den heutigen kapitalistischen Bedingungen möglich, als Regierungspartei bzw. Koalitionspartner eine Politik zu machen, die im Interesse der Arbeiter und Werktätigen liegt? In der heutigen Zeit, in der Konzerne und die Finanzoligarchie bzw. deren Vertreter nicht einmal bereit sind, bei der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik kleinste Zugeständnisse zu machen, wird eine Abweichung von dieser Politik nicht zugelassen – ungeachtet dessen, welche Partei in der Regierung ist. Es ist bekannt, welche Politik diejenigen umsetzen, die in der Opposition eine linkspopulistische Linie verfolgt haben. Ein Beispiel dafür bietet die Syriza in Griechenland. Ein anderes Beispiel sehen wir in den drei Bundesländer, in denen die Linkspartei an der Regierung ist.

Die eigentliche Gefahr, die aus einem solchen Politikverständnis ausgeht, liegt darin, dass der Horizont der bestehenden Massenbewegungen, deren Wut und Kampfbereitschaft immer mehr steigt, auf den Parlamentarismus eingeschränkt wird. Damit versucht man, das Kampfpotenzial und die Radikalität der Bewegung von Anfang an von den Straßen wegzuholen. Dieses Ergebnis, also die Niederlage der Bewegung in den parlamentarischen Mühlen, ist bei diesem Projekt vorprogrammiert.

Auch die Bewegung unter Melanchon in Frankreich ist darauf bedacht, die „Gelbwesten“ im Wahlkampf für die bevorstehende EP-Wahl vor den eigenen Karren zu spannen.

Wenn es darum geht, in den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter und Werktätigen Verbesserungen zu erreichen, kann dies nur das Ergebnis ihres eigenen Kampfes sein. Ohne diesen Kampf kann man mit sozialdemokratischen Rezepten kein einziges Problem lösen, sondern nur die Gesellschaft besänftigen und ihre Wut abwiegeln.

Was heute vonnöten ist, in Betrieben, Schulen und anderen Lebensbereichen eine Arbeit zu organisieren bzw. zu verstärken, die breite Kreise erreicht. Es ist heute notwendiger denn je, Initiativen und Gruppen aus verschiedenen Bereichen zu vermehren, zusammenzuführen und die Grundlage für ihren gemeinsamen Kampf zu schaffen. Werktätige, die unter der Last der Probleme leiden, deren Unzufriedenheit und Wut immer stärker werden, zusammenzuführen und zu verhindern, dass sie von anderen instrumentalisiert werden, ist nur auf diesem Wege möglich.

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