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„Beide Seiten sind gefangen in der Eskalationsspirale von Gewalt und Gegengewalt“

Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) und Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) mit dem GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE (GN-STAT). Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik, darunter Bestseller. Wir haben mit ihm über Waffenlieferungen und die Rolle Deutschlands im Ukrainekrieg gesprochen.

YÜCEL ÖZDEMİR

Der Krieg in der Ukraine geht nun in sein zweites Jahr. Betrachtet man die Entwicklung in diesem Jahr, so hat sich die Politik der Bundesregierung konsequent in Richtung Kriegsbeteiligung bewegt. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für diesen Wandel?

„Direkter Anlass für diese, von Bundeskanzler Olaf Scholz beschönigend ‚Zeitenwende‘ genannten Radikalumkehr, war die völkerrechtswidrige Intervention russischer Streitkräfte in der Ukraine. Tatsächlich bricht die sogenannte ‚Ampelkoalition‘ von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen mit ihrer Politik immenser Hochrüstung und Militarisierung zentrale Versprechen zur Bundestagswahl 2022. Den radikalsten Bruch mit ihrer Parteitradition vollzogen Bündnis 90 / Die Grünen, die vor der Wahl noch mit dem Versprechen für Wählerstimmen warben, keinerlei Kriegswaffenexporten in Krisen- und Kriegsgebiete zuzustimmen. Inzwischen treten führende Grünen-Politiker als Speerspitze der Waffenexport-Befürworter und -Genehmiger auf. Zugleich stellen sie mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und dessen Wirtschaftsstaatssekretär Sven Giegold die Verantwortlichen für die Genehmigungspolitik bei Rüstungsexporten.“

Hat sich die Meinung der Bevölkerung zur Aufrüstung und zum Krieg in Bezug auf die Ukraine geändert? Was hält die Bevölkerung von der Entsendung schwerer Waffen in das Kriegsgebiet?

„Lange Jahre war eine große Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung strikt gegen Waffentransfers in Kriegsgebiete. Die Meinungswende wurde über ein verlogenes Versprechen herbeigeführt: Wir liefern ausschließlich Waffen und Munition zur Verteidigung, z.B Flugabwehrpanzer ‚Gepard‘ und Luftabwehrraketen ‚Stinger‘. Noch vor einem Monat äußerte sich eine Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung in repräsentativen Meinungsumfragen gegen die Lieferung von Kampfpanzern des Typs ‚Leopard‘. Zwei Wochen danach soll plötzlich eine deutliche Mehrheit plötzlich für die Leo-Lieferung sein.

Was wäre die Alternative gewesen?

Jeder, der die umfassende Studie „Why Civil Resistance Works“ der US-Politologinnen Erica Chenoweth und Maria Stephan kennt, weiß, dass ziviler Widerstand in der großen Mehrheit der Fälle von Aufständen, Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen erfolgreicher und humaner verlaufen ist als der militärische. Die Analyse von 323 Konflikten für den Zeitraum von 1900 bis 2006 ergab: Gewaltfreier Widerstand führte doppelt so häufig zum Erfolg wie gewaltsamer.

Gibt es bei der Festlegung der deutschen Ukraine-Politik den Wunsch der Rüstungskonzerne, mehr Waffen zu verkaufen und hat sich die Bundesregierung vielleicht wegen den heimischen Rüstungskonzernen in Richtung Kriegsbeteiligung entwickelt?

„Der militärisch-industrielle Komplex hat in den vergangenen zwölf Monaten in Deutschland massiv Druck auf eine willfährige Politik erzeugt. Pars pro toto sei Marie-Agnes Strack-Zimmermann genannt. Zum einen ist die FDP-Bundestagsabgeordnete Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags. Zum anderen ist sie Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik sowie beim Förderkreis Deutsches Heer – beides einflussreiche Lobbyverbände der Rüstungsindustrie und des Militärs. Der Verein ‚Lobbycontrol‘ kritisiert diese personelle Verflechtung zu Recht sehr vehement.

Gleich nach Kriegsbeginn gingen die Aktienkurse der Aktiengesellschaften Rheinmetall AG, Hensoldt AG und Heckler & Koch AG durch die Decke. Rüstungskonzerne sind Kriegsgewinnler par excellence.“

Wird die Entsendung von den Leopard-2-Panzern von Deutschland aus in die Ukraine zu weiteren Konflikten oder eher zu einem Ende des Krieges führen?

„Laut Analysen von US-amerikanischen Militärs hat dieser Krieg im ersten Jahr jeweils rund hunderttausend russischer und ukrainischer Kämpfer das Leben gekostet, zudem starben bislang etwa 40.000 Zivilistinnen und Zivilisten. Ein Drittel des Landes ist vermint und für lange Zeit unbewohnbar. Die Staaten der NATO werden in den folgenden Monaten Hunderte von Kampfpanzern liefern.

Diese umfassende Hochrüstung der Ukraine ist ein weiterer Schritt zur Kriegsführung zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Und schon jetzt sind die kommenden Schritte vorgezeichnet: die Lieferungen von Kriegsschiffen, Militärhelikoptern und Kampfflugzeugen, zudem von immens großen Mengen an Munition. Beide Seiten sind gefangen in der Eskalationsspirale von Gewalt und Gegengewalt. Dabei haben die Waffenexportbefürworter bis heute die entscheidende Frage nicht beantwortet: Wie sieht das Ausstiegsszenario aus dieser Eskalationsspirale aus?

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme nehmen aufgrund des Krieges zu. Was kann die Friedensbewegung in diesem zweiten Jahr generell tun, um Lehren aus den Ereignissen des ersten Jahres zu ziehen?

„Die Friedensbewegung muss auf die immense Gefahr hinweisen, die von den Mainstream-Medien verschwiegen wird. Wiederholt hat das Regime Putin bekundet, dass es zu allem bereit ist. Für den Fall, dass Russland in einem konventionellen Krieg massiv in die Defensive geraten sollte, bleibt aus Putins Sicht letztlich nur noch der Gebrauch von Atomwaffen. So wird dem Einsatz taktischer Atombomben in dünn besiedelten Gebieten der Beschuss ukrainischer Städte mit Atomraketen folgen. Wenn die Nato ihrerseits auch Atomaffen einsetzt, wird ist die Eskalationsspirale an ihrem finalen Punkt angelangt sein: dem beiderseitigen Einsatz atomarer Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen. Wegen der bestehenden Overkillkapazitäten wird ein Atomkrieg allesvernichtend wirken.

Denken Sie, der Krieg in der Ukraine wächst oder endet im zweiten Jahr?

Noch zeichnet sich kein Ende des Krieges ab. Die Herren Putin und Selenskyj müssen sich fragen lassen: Wie viele Menschen sollen noch sterben und wie viel Land muss noch verseucht und unbewohnbar gemacht werden, bevor Sie endlich bereit sind, über Frieden zu verhandeln? Ich sehe einen konkreten Weg, diesen Krieg zu beenden: Die Lösung liegt in Verhandlungen auf neutralem Boden – wohlgemerkt ohne Vorbedingungen. Diese Friedensverhandlungen müssen unter Leitung von UN-Generalsekretär António Guterres erfolgen, am besten an einem neutralen Ort wie Genf oder Wien. Ziel muss sein, für beide Seiten akzeptable Lösungen zu finden. Wie etwa die Autonomie oder die Neutralität bestimmter Regionen der Ukraine unter UN-Schutz, mit Sicherheitsgarantien der USA und Russlands.

 

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