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Die Wahlprozedur und Taktik der linken Opposition

Die Oberste Wahlkommission der Türkei (YSK) hat offiziell verkündet, dass die Wahlen am 14. Mai 2023 nach dem neuen Wahlgesetz stattfinden werden. Vor fast einem Jahr, am 31. März 2022, hatte die TBMM (Große Nationalversammlung der Türkei, also das Parlament) mit den Stimmen der Regierungsparteien AKP und der faschistischen MHP das neue Wahlgesetz verabschiedet.

Das Gesetz enthält einige wesentliche Neuerungen, die jetzt sehr aktuell sind. Wir haben versucht, die wichtigen Punkte des Gesetzes in die aktuellen Entwicklungen der letzten Zeit einzubetten:

  1. Die 10-Prozent-Hürde, ein Überbleibsel der Militärputsch-Verfassung von 1980 mit dem Ziel, kleine Parteien aus dem Parlament zu halten und „damit Stabilität zu sichern“ wurde auf 7 Prozent abgesenkt.

Somit könnte der kleine AKP-Partner MHP aus eigener Kraft ins Parlament kommen, denn 7 % sind laut Umfragen realistisch für die MHP. Das hätte für die AKP den Vorteil, dass sie wieder verstärkt konservative kurdische Wähler erreichen könnte, wenn sie sich zumindest dem Anschein nach von der faschistischen MHP abkapseln würde. Konservative kurdische Wähler plant die AKP übrigens auch mit der kurdischen Hizbullah (ehemalige kurdisch-islamistische Organisation) Nachfolge-Partei Hüda-Par für sich zu gewinnen. Die 2018 gegründete „Volksallianz“ zwischen der AKP und der MHP wurde Mitte März um diese Kleinstpartei erweitert. Nicht unbedingt wegen dem hohen Stimmanteil, der sich lediglich in wenigen kurdischen Provinzen um die 3-4 % bewegt, sondern wegen der paramilitärischen Radikalität dieser Organisation, um politischen Feinden Angst einzuflößen.

  1. Bisher hatte es Parteien ausgereicht, sich in Wahlallianzen zusammenzuschließen, um die Wahlhürde zu schaffen. Das neue Gesetz verlangt nun, dass jede Partei einzeln in den jeweiligen Wahlbezirken die 7%-Hürde überwinden muss.

Die oben erwähnte Volksallianz war so eine Wahlallianz. Ihr stellte sich das „Bündnis der Nation“ (im Volksmund „6-er Tisch“) unter der Führung der größten Oppositionspartei, der republikanischen CHP mit 5 weiteren Mitte-Rechts-Konservativen Kräften entgegen, unter anderem der IYI-Partei, einer säkular-nationalistischen aber nicht weniger gefährlichen Absplitterung der MHP und weiteren Absplitterungen der AKP, der Zukunftspartei und der DEVA-Partei. Wollen die kleineren Parteien ins Parlament einziehen, müssten ihre Kandidaten sich in etlichen Wahlbezirken auf den Listen der Parteien wählen lassen, die eine realistische Chance haben. Aus der Opposition ist das zur Zeit möglich für die republikanische Volkspartei CHP und die IYI-Partei aus dem Bündnis der Nation sowie für die kurdische HDP aus dem dritten „Bündnis für Arbeit und Freiheit“, dem sozialistischen Block, in dem auch die EMEP (Partei der Arbeit) sowie TIP (Türkische Arbeiterpartei) sowie weitere Kräfte vereint sind.

  1. Parteien müssen in 41 der 81 türkischen Provinzen Organisationsstrukturen haben und Parteitage abhalten haben, um an einer Wahl teilnehmen zu dürfen.

Da die HDP seit längerer Zeit mit einem Parteiverbotsverfahren konfrontiert ist und am 11. April eine Anhörung stattfinden wird, zielte diese Regelung darauf ab, die HDP kurz vor den Wahlen zu verbieten und damit ihre Mandate für die AKP zu gewinnen. Würde sie kurz vor der Wahl verboten werden, dürfte es ihr schwerfallen, noch rechtzeitig eine Ersatzpartei in diesem Umfang aufzubauen. Dem kam die HDP zuvor, indem sie die Grün-Linke Partei (Yesil Sol Parti) ausbaute und auf deren Listen sie nun selber kandidieren wird.

  1. Eine weitere Änderung betrifft die Wahlkomitees, die die Durchführung der Wahlen beaufsichtigen. Bisher wurden diese mit erfahrenen Richtern der jeweiligen Städte besetzt, nun sollen die Richter per Los bestimmt werden.

In die Lotterie könnten nun vor allem solche Richter gelangen, die der AKP nahestehen. Oppositionelle könnten bedroht werden, sich nicht aufzustellen. Daher ist es für demokratische Kräfte in Europa wichtig, unabhängige Wahlbeobachter in die Türkei zu entsenden.

  1. Wählerstimmen sollen nach einem neuen Verfahren auf die Parlamentssitze umgerechnet werden.

Rechenbeispiele zeigen, dass nach diesem Verfahren in der Wahl von 2018 AKP und MHP zwölf bzw. vier Sitze mehr erhalten hätten, CHP und IYI-Partei dagegen 15 bzw. fünf weniger. Somit ist die neue Zählweise ein Garant dafür, dass die Wahlen weder fair noch demokratisch ablaufen werden.

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