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Ein Blick auf die 6. Bundeskonferenz der Ver.di

Yusuf As

Wegen Redaktionsschluss konnten wir in der letzten Ausgabe lediglich über die ersten Tage der 6. Bundeskonferenz (BuKo) der Ver.di berichtet. Schon da hatten sich kontroverse Diskussionen angedeutet, die sich auch bis zum Schluss der BuKo fortgesetzt haben. Dass die knapp über 1000 Anträge auf der BuKo nicht alle den Raum finden würden, den sie bräuchten, war schon von Anfang an klar. Am Ende aber hat es den gesamten Block „Sozial-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik“ sowie den Block „Nachhaltige Wirtschaft und Handlungsfähiger Staat“ getroffen. Nicht zuletzt haben Gewerkschaftsrat (GR) und der Ver.di-Vorstand mit ihrem Antrag rund um den Themenbereich „Ukraine-Krieg“ dafür gesorgt. Bei den Debatten ging es nicht zuletzt um die Sondervermögen der Bundeswehr, das 2%-Ziel der Nato, die Sanktionen gegen Russland und auch die Waffenlieferung an die Ukraine. Der Antrag E084 unter dem Titel „Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“ des GR hat für mehr Spaltung und Verwirrung anstatt einer Einheit innerhalb der Gewerkschaft und deren traditionelle Rolle in der Friedensbewegung gesorgt. Schließlich gab es schon in den Bezirken unzählige Anträge für Frieden und Abrüstung und kontroverse Diskussionen. Dieser Antrag vom GR hat auch dazu geführt, dass eine Anzahl von thematisch ähnlichen Anträgen durch diesen Antrag mit dem Verweis „Erledigt durch Antrag E084“ abgewürgt wurden.

GEGEN DIE 100 MILLIARDEN UND DAS 2%-ZIEL

Auch wenn der Vorsitzende der Ver.di, Frank Wernecke, in seinem Grundsatzreferat die Schwerpunkte auf Digitalisierung, Klimawandel und demographischer Wandel legen wollte, wusste auch er, wo sich die Diskussionen verhärten würden. Er griff auch das Thema Krieg und Frieden auf und betonte mehrmals, dass Ver.di klar gegen die 100 Milliarden Sondervermögen und das 2% Ziel der Nato sei. Es wurde von ihm ein Sondervermögen für Soziales, Bildung und Gesundheit gefordert. Ver.di sei wohl immer eine Gewerkschaft des Friedens gewesen. So wollte er vermutlich den Wind aus den Segeln nehmen, noch bevor die Debatte anfing. Sicher ist die Betonung dieser Grundsätze sehr wichtig, wenn man sich die heutige Kriegspropaganda vor Augen führt. Aber ohne die damit verbundenen Waffenlieferungen und Sanktionen entschärft man diese Positionen und sie wird eine leere Hülle. In Worten gegen das Sondervermögen zu sein aber im Antrag eine Zustimmung zu Aufrüstung der Bundeswehr zu geben, bringt die Ablehnung des Sondervermögens ins Unglaubwürdige (z.B. „Die Bundeswehr hat angesichts von kostspieligen und teils zweifelhaften Auslandseinsätzen der vergangenen Jahrzehnte einerseits und Sparmaßnahmen andererseits, wie sie auch andere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge betrafen, Infrastrukturdefizite und Ausrüstungsmängel bis hin zu unzureichender persönlicher Kleidung von Soldat*innen zu beklagen.“).

WAFFEN AN DIE UKRAINE ABER KEINE TAURUS-MARSCHFLUGKÖRPER?

Der gesamte Antrag E084 war schwammig und auf Linie der Bundesregierung mit einigen wenigen Ausnahmen. Gewerkschaftslinke und der Friedensnetzwerk Ver.di haben sich schon im Vorfeld gut vorbereitet. Die Bielefelder hatten ein Positionspapier veröffentlicht, die Hamburger eine Veranstaltung mit dem ehemaligen Vorsitzenden Frank Bsirske mit einem Appell an die Delegierten gerichtet, die Bundesmigrationskonferenz hatte einen guten Antrag und auch die Kolleginnen aus Baden-Württemberg und anderen Regionen waren kritisch vorbereitet. Aber schon am Anfang war die Luft sehr dick im Kongresssaal. Es gab schon zu Beginn Wortmeldungen zum Antrag und den Änderungsanträgen eine angehäufte Rededauer von ca. 7 Stunden. Noch bevor die Änderungsanträge besprochen werden sollten! Der erste Änderungsantrag gegen die Sanktionen an Russland, wurde zu einer Generaldebatte. Die Friedensbewegten brachten viele sachliche und gut überlegte Argumente ein. Ein großer Teil der Delegierten, die sich auch als „Friedensbewegte“ definierte, aber für Waffenlieferungen und eine Sanktionspolitik sprach, emotionalisierte die Debatte auf einem Niveau, der die Diskussion sehr erschwerte und hemmte. Vor allem Ver.di-Jugendliche emotionalisierten und moralisierten den Krieg. Durch ein Geschäftsordnungsantrag wurden alle Änderungsanträge gekippt und es wurde eine Block Abstimmung zu den empfohlenen Anträgen der Antragskommission durchgeführt. Einige wenige Änderungen wurden angenommen, die sehr oberflächlich oder banal waren, wie z.B. Waffenlieferung ja, aber keine Taurus-Marschflugkörper oder Sanktionen sollen besser kontrolliert werden, so dass sie die breite Bevölkerung nicht treffen sollen.

Danach ging es zur Abstimmung, wo nochmal die Möglichkeit zur Aussprache war. Der Vorstand nutzte die Gelegenheit, für Zustimmung zu werben. Die stundenlangen Diskussionen gingen nicht spurlos an den Delegierten vorbei. Die Friedensaktivisten blieben in der Minderheit und es fehlte an Koordination. Der Kongress war auch ein Ebenbild der Gesellschaft. Die Schwäche der gesellschaftlichen Linken und der Friedensbewegung hat auch hier ihren Tribut gefordert. 80% der Delegierten stimmten für den Antrag.

WIE WEITER

Viele gute Anträge, Forderungen und Diskussionen fanden statt. Zahlreiche Streikende kamen zur Konferenz und hatten Redebeiträge. Es wurde eine klare Absage an die AfD und rechte Gruppen erteilt und viele aktuelle und konkrete Themen wurden besprochen, obwohl sie im Schatten der Kriegsdebatte stattfanden und nicht die Aufmerksamkeit bekamen, die sie verdienen. Die Friedensforderung muss von der Basis kommen. Nur von dort können wir etwas bewegen und verändern. Die Gewerkschaftsspitze ist auf Regierungskurs. In den Bezirken, Fachbereichen und Betrieben müssen wir über die Rolle der Gewerkschaften reden. Kein Antrag ist in Stein gemeißelt. Der IG Metall Kongress steht noch Ende Oktober an. Dort werden die Kriegstrommeln stärker zu hören sein. Der Ver.di-Kongress hat uns zumindest eine Bühne gegeben, Stellung gegen die 100 Milliarden und das 2%-Ziel zu beziehen. Die Basis kann und muss entscheiden, wie sich die Gewerkschaften bei der drohenden atomaren Kriegsgefahr oder den steigenden Lebensmittel- und Energiekosten verhalten werden. Wir müssen die Gewerkschaft von unten stärken. Nur von dort können wir eine Veränderung hinkriegen. Der Kongress war nur ein kleiner Austragungskampf zwischen Basis und Gewerkschaftsspitze.


Meinungen zum ver.di Bundeskongress

Jürgen Senge ist stellvertretender Personalratsvorsitzender bei IT.NRW, einer Landesbehörde mit mehr als 3300 Beschäftigten und arbeitet in Düsseldorf. Er war Delegierter beim 6. ver.di Bundeskongress.

Der Bundeskongress war von Kontroversen geprägt, sei es die Vorstandswahl oder der Leitantrag des GR zur Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie fandest du den Kongress im Großen und Ganzen?

Der Bundeskongress war organisatorisch davon geprägt, dass es u.a. bedingt durch Gastauftritte von Politikern, aber auch durch viele persönlichen Erklärungen und Geschäftsordnungsanträge, dazu kam, dass ein Großteil der Anträge (der gesamte Block „Sozial-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik“ sowie der Block „Nachhaltige Wirtschaft und Handlungsfähiger Staat“) nicht behandelt werden konnte und an den Gewerkschaftsrat zur weiteren Beratung überwiesen werden musste. Pikanterweise waren darunter auch Anträge, die vom Gewerkschaftsrat selbst kamen.

Inhaltlich wurde der Kongress dominiert durch die Wahlen zum Bundesvorstand. Erstmalige kandidierten hier 2 Personen für ein Amt. Der vom Gewerkschaftsrat nicht vorgeschlagene Orhan Akman (ehemals Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel) erzielte hier mit fast 24 % der abgegebenen Stimmen ein achtbares Ergebnis. Bei den Anträgen war es die Debatte zum Antrag E084, der sich mit der Position der Organisation zum Ukrainekrieg beschäftigte und der den Kongress mit einer Beratungsdauer von ca. 8 Stunden prägte. Hierzu gab es mehrere Gegenanträge, über die leider undemokratisch ohne Debatte nach dem Antrag eines Hamburger Kollegen en bloc abgestimmt wurde.

Der Leitantrag wurde mit 80% angenommen. Woran lag das?

Wie schon gesagt: Über die Änderungsanträge konnte gar nicht diskutiert werden. Ich denke, der Antrag des Hamburger Kollegen spielte der Kongressregie in die Hände. Der Bundesvorstand wollte auf jeden Fall vermeiden, dass ver.di sich kritisch zum Kurs der Bundesregierung äußern würde. Deren Kurs sollte staatstragend mitgetragen werden.

Es gab viele Wortbeiträge gegen den Krieg und Waffenlieferungen. Kannst du einschätzen, wie die Diskussion innerhalb der Basis geführt wird?

Nun, die Kolleginnen und Kollegen an der Basis, in den Dienststellen und Betrieben, werden bald merken, dass das Geld, welches für die Aufrüstung ausgegeben wird -100 Mrd. Euro sind schließlich eine ganze Menge- für Ausgaben im Bildungs-, im Sozialbereich, für Verkehr und Umwelt fehlen. Möglicherweise wird später an sie appelliert werden, auch bei Tarifrunden Maß zu halten. Das wäre dann die Krönung. Die meisten in der Bevölkerung wollen keinen Kurs der Aufrüstung. Sie leiden unter den Folgen der Inflation und brauchen das Geld.

Wie geht’s weiter mit den Friedensforderungen innerhalb von ver.di?

Die Delegierten von gewerkschaftlichen Gruppen, wie dem Friedensnetzwerk, der Gruppe „Sagt nein“ und der ver.di-Linke NRW haben sich erst kürzlich in einer bundesweiten Videokonferenz getroffen, um weitere Schritte zu besprechen und um sich zu vernetzen. Teilgenommen haben mehr als 50 Kolleginnen und Kollegen. Geplant ist ein bundesweites Treffen in Präsenz. Konkret wird es auch, so mein Kenntnisstand, zu Aufrufen für Friedensdemos im Herbst kommen.

Viele sprechen über den Leitantrag. Aber sicherlich war das Friedensthema nicht das einzige, was diskutiert wurde. Welche Themen waren deiner Meinung nach noch wichtig?

Erfreulich war, dass Anträgen, die Wahlperiode von 4 auf 5 Jahre zu verlängern, eine eindeutige Absage erteilt wurde. Schön war auch, dass der Kongress sich eindeutig zur Abgrenzung zur AfD und anderen rechten Parteien bekannte. Innergewerkschaftlich Sprengstoff birgt der Antrag, eine neue Personengruppe LSBTQ zu gründen, bei gleichzeitiger Ablehnung, anderen, wie Behinderten, Migrant*innen, Erwerbslosen oder Senior*innen mehr Rechte zuzugestehen. ver.di steht nach dem Kongress vor mehr Problemen, als vor dem Kongress, vor allem auch, weil es immer noch keinen signifikanten Mitgliederzuwachs gibt. ver.di muss kämpferischer werden und sich nicht selbst verwalten durch immer neue Umorganisationen, durch Zusammenlegung von Bezirken und Fachbereichen.


Norbert Heckl ist stellvertretender ver.di-Bezirksvorsitzender in Stuttgart, Rentner und war jahrzehntelang Betriebsrat bzw. Betriebsrat-Vorsitzender in einem Großhandelsbetrieb. Er war Delegierter beim 6. ver.di Bundeskongress.

Der Bundeskongress war von Kontroversen geprägt, sei es die Vorstandswahl oder der Leitantrag des GR zur Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie fandest du den Kongress im Großen und Ganzen?

Der Bundeskongress war erwartungsgemäß stark von der Diskussion um den Ukraine-Krieg geprägt. Dadurch kamen andere wichtige Themen leider zu kurz. Es war jedoch richtig, dass wir uns dafür viel Zeit nahmen – was kann es Wichtigeres geben, für die Gewerkschaftsbewegung, als die Frage um Krieg und Frieden? Der Ukraine-Krieg und die Reaktionen der Bundesregierung darauf beeinflussen viele Bereiche unseres täglichen Lebens, angefangen bei der Inflation. Leider wurden von einem großen Teil der Delegierten und auch Mitgliedern des Bundesvorstands diese Verbindungen zu wenig reflektiert. Das Sparen am Sozialen, gerade auch im Haushaltsentwurf für 2024, wurde zwar beklagt, daraus wurde aber eher die (richtige) Forderung nach Schluss mit der Schuldenbremse gezogen, das riesige Aufrüstungsprogramm fiel dabei meist unter den Tisch.

Der Leitantrag wurde mit 80% angenommen. Woran lag das?

Die 80 % Zustimmung zum Leitantrag widerspiegeln meines Erachtens nicht die Stimmung unter den ver.di-Mitgliedern, von denen sicherlich ein größerer Teil (wahrscheinlich aber trotzdem eine Minderheit) die ständig eskalierenden Waffenlieferungen ablehnt. Sie widerspiegeln aber die Haltung eines großen Teils der ver.di-Funktionäre auf allen Ebenen. Dass die SPD in den letzten Jahren wieder mehr Einfluss in der Gewerkschaftsbewegung gewonnen hat, ließe sich wahrscheinlich auch nachweisen, wenn man die Delegierten nach ihren Parteipräferenzen gefragt hätte, und das hat meiner Meinung nach auch mit zu diesem Abstimmungsergebnis geführt. Auch die ver.di-Jugend hat sich – mit Ausnahmen – vehement für Waffenlieferungen eingesetzt. Vielleicht stand für viele der Delegierten, die dem Leitantrag nach langer Diskussion (insgesamt über 80 Wortbeiträge) zustimmten, auch die Ablehnung des 100 Mrd. Aufrüstungsprogramms und des Militäretat-Ziels von 2% des BIP im Vordergrund. Die Befürworter des Leitantrags diskutierten auch sehr emotional („Man muss dem Opfer doch gegen den Aggressor helfen“), während analytische Beiträge fast ausschließlich von den Gegnern der Waffenlieferungen kamen. Unterbelichtet bliebe bei all‘ dem die Vorgeschichte des Überfalls. Der Antrag, der sich umfassend damit auseinandersetzte, fiel mit großer Mehrheit durch.

Es gab viele Wortbeiträge gegen den Krieg und Waffenlieferungen. Kannst du einschätzen, wie die Diskussion innerhalb der Basis geführt wird?

An der „Basis“, zu der auch die Delegierten gehören, sie sind keine abgehobenen Funktionäre, wird die Diskussion zu wenig geführt, auch aus Verunsicherung heraus. Wenn sie geführt wird, dann auch eher emotional. Es ist erkennbar, dass viele unserer Mitglieder und auch der Funktionäre gewerkschafts- und sozialpolitische Kompetenzen haben, sich aber in der „Großen Politik“ sehr unsicher fühlen, geschweige denn, was außenpolitische Fragen betrifft. Daher übernehmen sie in weiten Teilen die Wertungen der Regierung bzw. der (bürgerlichen) Medien. Das zeigte sich beispielsweise auch an dem recht unkritischen Leitantrag zur EU, der sich zwar mit verschiedenen Bereichen der EU-Politik befasst, aber kein Wort zur seit Jahren laufenden Militarisierung der EU sagt. Die alte Forderung von Friedrich Engels, dass die Arbeiterbewegung auch eine unabhängige Außenpolitik entwickeln muss, ist m.E. sehr aktuell.

Wie geht’s weiter mit den Friedensforderungen innerhalb von ver.di?

Von allen, auch von Frank Werneke, wurde betont, dass ver.di Teil der Friedensbewegung ist und auch bleibt. Daran knüpfen wir friedensbewegten Delegierten an und stellen daher auch die Ablehnung der Aufrüstung (nicht „grenzenlos“, wie im Ursprungsantrag stand) in den Vordergrund. Ein weiterer guter Anknüpfungspunkt für uns ist auch die Erklärung des DGB zum Antikriegstag, der „vor dem Irrglauben warnt, immer mehr Waffen für die Ukraine würden zu einem schnelleren Ende des Krieges führen.“, und die Bundesregierung auffordert, „ihr Handeln stärker auf friedliche Ansätze zur Konfliktlösung zu fokussieren.“ Im Übrigen werden die Diskussionen in ver.di natürlich weitergehen, die Auseinandersetzungen um den friedenspolitischen Kurs von ver.di sind mit dem Kongress und dem Beschluss nicht zu Ende.

Viele sprechen über den Leitantrag. Aber sicherlich war das Friedensthema nicht das einzige, was diskutiert wurde. Welche Themen waren deiner Meinung nach noch wichtig?

Wichtig fand ich auch die Beschäftigung mit Arbeitszeitfragen, die in den kommenden Jahren wieder stärker gewichtet werden sollen. Allerdings bin ich skeptisch, ob nicht angesichts der Inflation, die auch in den nächsten Jahren zu erwarten ist, dieses Thema wieder zurückgestellt wird. Eine ausführliche Diskussion gab es auch zu der (unumstrittenen) Abgrenzung zur AfD, die aber meines Erachtens zu sehr unter der: Sollen wir AfD-Mitglieder aufgrund ihrer Mitgliedschaft aus ver.di ausschließen? Gerade Linke sind ja „gebrannte Kinder“, wenn Gewerkschaftsausschlüsse nicht inhaltlich, sondern nur aufgrund Organisations- oder Parteizugehörigkeit begründet werden. Noch dazu werden ja gerade in einigen Bundesländern neue „Extremistenerlasse“ vorbereitet. Und vor allem denke ich, was auch in einigen Diskussionsbeiträgen angesprochen wurde, dass wir uns mehr mit der Politik auseinandersetzen müssen, die zum Erstarken von AfD etc. führt, und den Kampf nicht allein gegen die AfD führen dürfen. Also, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, auch den „Schoß, aus dem das kroch“, in den Blick nehmen müssen.


Karima Benimmar ist 32 Jahre alt und arbeitet in Stuttgart als Elektroingenieurin für Energieinfrastruktur. Sie war Delegierte beim 6. ver.di Bundeskongress.

Der Bundeskongress war von Kontroversen geprägt, sei es die Vorstandswahl oder der Leitantrag des GR zur Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie fandest du den Kongress im Großen und Ganzen?

Der Kongress war der erste für mich, bisher kannte ich vor allem Diskussionen auf der Bezirksebene oder im Betrieb. Mich hat die Antragsflut überrascht – es ist doch schon vorher klar, dass 1000 Anträge nur schwer vorzubereiten und durchzudiskutieren sind. Genauso wie es danach schwierig zu überblicken ist, wie die angenommenen zahlreichen Anträge nachher im Alltag im Betrieb und auf den verschiedenen Ebenen umgesetzt werden sollen. Für die Demokratie in der Gewerkschaft ist das aus meiner Sicht schon mal ein Problem. Dass die Vertreter der Regierung so viel Applaus für ihre Reden bekommen haben von den Delegierten, fand ich auch sehr schwierig, weil die große soziale Ungerechtigkeit und die Verarmung von einem großen Teil der Bevölkerung ja durch die Regierung verursacht ist. Gut war aber immerhin, dass sich sehr viele beteiligt haben an der Diskussion um die Waffenlieferungen an die Ukraine.

Der Leitantrag wurde mit 80% angenommen. Woran lag das?

Für mich, und auch für viele Delegierte die sich gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine eingesetzt haben, war schon vorher klar, dass wir damit wahrscheinlich nicht in der Mehrheit sind momentan. Das hat man schon gemerkt an der Stimmung auf den Ostermärschen seit Februar 2022 und am 1. September, wo sich die Gewerkschaft in vielen Städten ja auch beteiligt. Die täglichen Medienberichte und „Öffentlichkeitsarbeit“ der Regierung haben es in den letzten eineinhalb Jahren geschafft, dass viele Menschen ihre Ablehnung von Aufrüstung der Bundeswehr, den Einsatz in der NATO und Lieferung von Waffen an kapitalistische Staaten infrage gestellt haben.

Es gab viele Wort Beiträge gegen den Krieg und Waffenlieferungen. Kannst du einschätzen wie die Diskussion innerhalb der Basis geführt wird?

In meinem Betrieb haben wir die Diskussion zum Beispiel über Artikel in der Betriebszeitung geführt, und sonst konnte ich mit einzelnen Kollegen und Kolleginnen darüber diskutieren. Viele haben leider gar nicht die Bedeutung davon gesehen, dass wir uns als Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen zu politischen Themen positionieren sollten und fanden es viel wichtiger, dass wir uns in Tarifverhandlungen nicht so schnell auf Kompromisse einlassen und mehr an der Gewerkschaftsbasis orientieren. Die Diskussion fängt also schon viel früher an, nämlich darüber, dass es so etwas wie eine unpolitische Gewerkschaft gar nicht geben kann – sondern nur die Perspektive der Arbeiterklasse oder die des Kapitals. Ein Vergleich des aktuellen Kriegs mit den früheren Einsätzen der NATO und was wir dort als richtige Haltung gesehen haben, hat aber in meiner Erfahrung zu guten Diskussionen geführt.

Wie geht’s weiter mit den Friedensforderungen innerhalb von ver.di?

Wir dürfen die Abstimmung über den Leitantrag E 084 nicht einfach nur als Niederlage sehen. Der wichtige Teil der Diskussion kommt eigentlich erst jetzt nach dem Bundeskongress, mit Nachbereitungstreffen in den Bezirken und Betrieben. Konkret beispielsweise in der Vorbereitung für politische Kundgebungen müssen wir diese Diskussionen gezielt führen, und auch mehr über den Tellerrand schauen – Kollegen und Kolleginnen in Italien, Griechenland, Frankreich oder England haben gezeigt dass die Gewerkschaft einen eigenen Standpunkt einnehmen und für Frieden kämpfen kann, und nicht einfach nur auf Appelle an die Regierung angewiesen ist.

Viele sprechen über den Leitantrag. Aber sicherlich war das Friedensthema nicht das einzige, was diskutiert wurde. Welche Themen waren deiner Meinung nach noch wichtig?

Dem grundlegenden Potential der Gewerkschaft im Kapitalismus wurde viel zu wenig Raum gegeben. Wie können wir es schaffen, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen an der Basis sich selbst organisieren und noch mehr Handlungsspielraum bekommen? Gewerkschaftspolitik muss an der Basis gemacht werden. Stattdessen haben wir aber an vielen Stellen in ver.di im Moment das Bild von einer Dienstleistungsgewerkschaft und mehr Führung von oben. Immerhin hat sich in der Diskussion und den Abstimmungen zum Beispiel zum Schlichtungsverfahren, aber auch zu Befristungen gezeigt, dass viele Kollegen und Kolleginnen die Sozialpartnerschaft stört. An diesen Themen sollten wir in den nächsten Jahren weiter arbeiten, um das Klassenbewusstsein, das Bewusstsein über die eigene Macht der Arbeiter und Arbeiterinnen weiter zu stärken.


Marie Schulpig ist 26 Jahre alt und arbeitet als Medizinische Fachangestellte in Berlin. Sie war Delegierte beim 6. ver.di Bundeskongress

Der Bundeskongress war von Kontroversen geprägt, sei es die Vorstandswahl oder der Leitantrag des GR zur Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie fandest du den Kongress im Großen und Ganzen?

Man hat schnell gemerkt, dass es kein Kongress wird, der in einen Baukasten passt. Wir haben von Anfang an gesehen, dass seitens der ver.di-Führung versucht wurde, kämpferische Töne einzuschlagen, die natürlich auch viel Applaus ernteten. Was wir aber eben vor allem in den Anträgen gesehen haben, ist der Kuschelkurs mit der Regierung und das Aufrechterhalten und Ausbauen der Sozialpartnerschaft. Später wird sich nicht auf Reden bezogen, sondern auf die beschlossenen Anträge. Was ich aber wirklich gut fand, ist, dass es sich viele Kolleginnen und Kollegen nicht nehmen ließen, kritisch und kämpferisch aufzutreten und den Finger in die Wunde zu legen.

Der Leitantrag wurde mit 80% angenommen. Woran lag das?

Es haben immerhin 20% gegen die Annahme des Leitantrages zu Krieg und Frieden gestimmt. Das ist mehr als ich für möglich hielt. Ich denke, dass viele eher durch die moralischen Aspekte, die in der Diskussion fielen, beeinflusst wurden und dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Druck. Sie waren gar nicht mehr bereit sachlich zu diskutieren, stattdessen wurden Bilder in die Köpfe der Delegierten projiziert, mit Aussagen, wie: „Denkt doch mal an die Kinder und Frauen!“, „Denkt doch mal an die vielen Söhne, die nicht mehr zurückkommen“. Solche und ähnliche Aussagen wurden in vielen Beiträgen wiederholt. Und natürlich sind viele auch einfach der Linie der ver.di-Führung gefolgt.

Es gab viele Wort Beiträge gegen den Krieg und Waffenlieferungen. Kannst du einschätzen wie die Diskussion innerhalb der Basis geführt wird?

Ich denke es ist jetzt auch an der Zeit standhaft zu sein und bei den Treffen der Gremien auch nochmal die Themen Krieg und Waffenlieferungen auf die Tagesordnung zu nehmen. Es ist auch wichtig, dass es größere Veranstaltungen gibt, zu denen die Mitglieder eingeladen werden, um wirklich auch breit darüber zu diskutieren, was das für uns als Gewerkschafter*innen aber eben auch für die gesamte Arbeiter*innenklasse bedeutet. Dass es wirklich dazu kommt, ist auch unsere Aufgabe als kritische Kolleginnen und Kollegen innerhalb der Gewerkschaft. Denn als Gewerkschaft sollten wir uns auf keine der beiden Seiten stellen. Auf beiden geht es um imperialistische Interessen, die in diesem Krieg dahinter stehen. Als Gewerkschaft sollten wir weder eine Selenskyj -Regierung unterstützen, die gewerkschaftliche Rechte unterdrückt, noch einen Oligarchen Putin. Ver.di müsste klarmachen, dass sie auf der Seite der Arbeiterinnen und Arbeitern auf der ganzen Welt steht und mit ihnen für ihre Interessen kämpft.

Wie geht’s weiter mit den Friedensforderungen innerhalb von ver.di?

Der Kongress hat die Weichen gestellt, jetzt noch stärker gegen Waffenlieferungen, Krieg und Abwälzung der Kosten auf die Arbeiter*innenklasse zu kämpfen. Alle sind wieder in ihre Orte und Gremien zurück, aber die eigentliche Arbeit beginnt jetzt erst. Es ist wichtig, dass wir uns vernetzt haben und uns auch weiterhin vernetzen und austauschen. Die Diskussionen werden geführt und wir müssen da auch klar Stellung beziehen. Es wird auch viele regionale Veranstaltungen geben, die sich mit der Auswertung des BuKo und der Friedensfrage beschäftigen, aber auch weitere klassenpolitische Standpunkte beinhalten werden.

Viele sprechen über den Leitantrag. Aber sicherlich war das Friedensthema nicht das einzige was diskutiert wurde. Welche Themen waren deiner Meinung nach noch wichtig?

Das Thema gleitende Lohnskala als ein Instrument zur Bekämpfung von Reallohnverlusten spielte auch eine große Rolle. Die Kolleginnen und Kollegen in Frankreich oder auch Belgien machen es vor. Natürlich können wir nicht einfach die gleitende Lohnskala einführen und hoffen, dass alles gut wird. Sie stellt in Anbetracht der steigenden Inflation auch nur eine Mindestabsicherung dar. Wir müssen darüber hinaus weiterhin tabellenwirksame Erhöhungen erkämpfen und sollten uns auch nicht aufhalten lassen hohe Forderungen zu stellen. Ein weiteres Thema war die sofortige Kündigung der Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst. Kolleg*innen aus dem Krankenhaus hatten sogar noch einen Antrag zu Eröffnung eines Diskussionsprozesses auf allen Ebenen dazu geschrieben. Leider haben knapp 60% der Delegierten für die Nichtbefassung gestimmt. Ein weiteres Thema war Kapitalismuskritik. Es gab Anträge, die sich klar gegen Kapitalismus stellen, bei denen die Antragsberatung aber auf „Erledigt durch Praxis“ verwiesen hat. Diese wurde aufgrund von Zeitmangel, weil man es wichtiger fand Scholz, Habeck, Wegener und Co. einzuladen, an den Gewerkschaftsrat weitergeleitet.


Jasmin, 28 Jahre alt, aus Baden-Württemberg ist Assistentin und war Delegierte beim 6. ver.di Bundeskongress.

Der Bundeskongress war von Kontroversen geprägt, sei es die Vorstandswahl oder der Leitantrag des GR zur Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie fandest du den Kongress im Großen und Ganzen?

Ich habe eine Anspannung wahrgenommen, die ich davor so noch nicht kannte. Das war über die Woche ein sehr unangenehmes Gefühl. Trotzdem war es auch schön mit neuen Kolleg*innen in Kontakt zu kommen und sich zu vernetzten.

Der Leitantrag wurde mit 80% angenommen. Woran lag das?
Weshalb so abgestimmt wurde, kann ich nicht beantworten, dafür haben sich zu wenige Menschen mit mir nach der Abstimmung ausgetauscht.

Es gab viele Wort Beiträge gegen den Krieg und Waffenlieferungen. Kannst du einschätzen wie die Diskussion innerhalb der Basis geführt wird?
Wir müssen uns stetig kritisch mit Themen auseinander setzten und uns hinterfragen.
Ich habe das Gefühl, dass wir in Baden-Württemberg auf einem guten Weg sind, kontroverse Themen zu diskutieren.

Wie geht’s weiter mit den Friedensforderungen innerhalb von ver.di?
Wir müssen dran bleiben, denn die Fragen rund um den Frieden werden uns in der Zukunft weiterhin beschäftigen. Wichtig ist, dass wir in der Diskussion bleiben und Bildungsangebote nutzen,  damit verschiedene Perspektiven beachtet und beleuchtet werden. Wichtig finde ich auch zu erwähnen, dass keine Abstimmung eine Entscheidung fürs Leben sein muss und wir auch unsere Meinung und Haltung ändern dürfen.

Viele sprechen über den Leitantrag. Aber sicherlich war das Friedensthema nicht das einzige was diskutiert wurde. Welche Themen waren deiner Meinung nach noch wichtig?
Ich fand Themen, wie die psychische Gesundheit, die klare Positionierung gegen Faschismus und auch die Neugründung der Personengruppe LSBTTIQ+ toll. Interessant und teilweise enttäuschend fand ich die Debatten rund um Anträge des Migrationsausschusses, das wird mich noch eine Weile beschäftigen! Aber die nächsten 4 Jahre werden spannend.
Ich freue mich gemeinsam mit meinen Kolleg*innen notwendige Arbeiter*innenrechte zu erkämpfen, neue Menschen kennenzulernen und mehr Bildungsinhalte wahrzunehmen. Ganz besonders die, die zur Selbstreflektion und stetigen Hinterfragung der Gesellschaftspolitik motivieren.


Christina Zacharias ist 26 Jahre alt und ist Krankenpflegerin auf einer Krebsstation in Karlsruhe. Sie war Delegierte auf dem 6. ver.di Bundeskongress.

Der Bundeskongress war von Kontroversen geprägt, sei es die Vorstandswahl oder der Leitantrag des GR zur Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie fandest du den Kongress im Großen und Ganzen?

Ich fand den Bundeskongress ernüchternd. Abseits der kontroversen Debatten wurde mir zu wenig über Politik gesprochen – wir haben eher „Spitzenpolitikern“ zugehört, als uns gegenseitig. Das entspricht nicht dem Anspruch, mit dem ich auf den Kongress gegangen bin.

Der Leitantrag wurde mit 80% angenommen. Woran lag das
Die momentane gesellschaftspolitische Lage zeigt ja, dass eine antimilitaristische und antiimperealistische Haltung mehr denn je eine Minderheitenposition ist – das schlägt sich natürlich auch in der Gewerkschaft nieder. Die Menschen sind völlig zurecht überfordert mit der Situation und  viele  lassen sich von ihrer Hilflosigkeit schlecht beraten.
Außerdem scheint es so, dass die deutschen Gewerkschaften in großen Teilen auf einen sozialdemokratischen Zug aufspringen und die SPD vertritt auf Bundesebene nun mal einen Kriegskurs.

Es gab viele Wort Beiträge gegen den Krieg und Waffenlieferungen. Kannst du einschätzen wie die Diskussion innerhalb der Basis geführt wird?
Hier kann ich nur von meinem Bezirk sprechen. Bei uns in Karlsruhe sind die Gewerkschaftsaktiven auch viel in Friedensbündnissen vernetzt. Sie sehen den Regierungskurs kritisch und sind enttäuscht von dem Abstimmungsverhalten des Bundeskongresses.
Ich empfinde es vor Ort als Diskrepanz zwischen der Basis, die ich kenne und Funktionär:innen, denen ich zum Teil auf dem Bundeskongress begegnet bin  und die die Debatte natürlich auch prägen.  Außerdem hat es mich erschrocken, da in Baden-Württemberg der Regierungskurs  auf den Regional- und Landeskonferenzen von ver.di auch eher kritisch diskutiert wurde, die Stimmung auf Bundesebene war für mich also eine böse Überraschung.

Wie geht’s weiter mit den Friedensforderungen innerhalb von ver.di?
Sowohl das Friedensnetzwerk als auch die Vernetzung kämpferischer Gewerkschafter:innen wird sich natürlich weiterhin  für dieses Thema stark machen. Von dem Bundeskongress dürfen wir uns nicht zu sehr entmutigen lassen, denn dort haben wir uns auch mit vielen tollen Kolleg:innen aus dem ganzen Land vernetzen können, denen wir inhaltlich nahe stehen und das ist sehr viel wert. Wir werden weiterhin für eine starke Friedensposition der Gewerkschaften kämpfen!

Viele sprechen über den Leitantrag. Aber sicherlich war das Friedensthema nicht das einzige was diskutiert wurde. Welche Themen waren deiner Meinung nach noch wichtig?
Es gab ja auch tolle und zielführende Anträge, mich freut es zum Beispiel, dass die Arbeitsgruppe Queer jetzt eine offizielle Personengruppe ist.
Ich persönlich finde aber, dass die Grundsatzdiskussion um die Aufgaben der Gewerkschaft zu kurz kam – die hätten in Teilen im Sachgebiet A zur Arbeit aber auch in den Fachgebiet B und C (Soziales und Transformation) geführt werden müssen, und nicht en bloc abgestimmt oder an dem Gewerkschaftsrat überwiesen werden. Für mich ist es schwierig, dass die Gewerkschaften immer sozialpartnerschaftlicher werden. Wir sind die Interessensvertretung der Arbeitnehmer:innen, und deren Interessen unterscheiden sich grundlegend von denen der Arbeitgeberseite! Wir müssen den Mut haben, über Erzwingungs- oder politische Streiks zu reden, über die Mär von unendlichem Wachstum auf einem begrenzten Planeten und über die Ursachen von Inflation. Für uns heißt das jetzt, nicht locker zu lassen, unsere Themen in den Betrieben und auf der Straße zu vertreten, Mitglieder zu gewinnen und uns zu organisieren.

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