Written by 18:00 DEUTSCH

Polizei diszipliniert die Armen in Zeiten der Krise

Dilan Baran

Seit 2019 sind auf dem Hansaplatz im Stadtteil St.Georg von Hamburg dauerhaft Überwachungskameras angebracht. Die wurden dort zwischen 2007 und 2009 schon einmal eingeführt, aufgrund von Protest der Anwohner aber wieder abgeschafft. Seit Juli wurde die Überwachungstechnik nun nochmals verstärkt. Die Daten der Videokameras werden mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) ausgewertet. Der Hansaplatz gilt als ein sogenannter „Kriminalitätsschwerpunkt“, das erlaubt polizeiliche Maßnahmen gegen Personen ohne das Bestehen eines konkreten Tatverdachts

Hamburg ist laut Innenbehörde nach Mannheim der zweite Standort bundesweit, an dem die vom Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) entwickelte Software erprobt wird. Diese soll auffällige Bewegungsmuster, Schlagen, Taumeln, Liegen bemerken. So sollen Gefahrensituationen frühzeitig erkannt werden. Aber das vom Fraunhofer Institut entwickelte System muss noch trainiert werden. Ob ein Paar sich umarmt oder zwei Streitende miteinander ringen, kann die KI nicht unterscheiden. Im Polizeikommissariat am Steindamm springt dann ein Bildschirm an und zeigt die Szene verfremdet in Form von Strichmännchen. Was Taumeln und Liegen für eine Gefahr darstellen soll, ist ebenfalls nicht geklärt, schließlich löst die KI damit ja keinen Ruf eines Krankenwagens oder einer sozialen Hilfe aus, sondern alarmiert die Polizei. Innensenator Andy Grote (SPD) sagte bei der Einführung zumindest, der Hansaplatz sei ein Beispiel dafür, dass es gelungen sei, mit Videoüberwachung und einer erhöhten Präsenz die Sicherheit und die Aufenthaltsqualität spürbar zu stärken. Mit dem Ausbau der Videoüberwachung wollten sie die technische Weiterentwicklung weiter vorantreiben und damit die Wirksamkeit der Maßnahmen steigen. Dafür wären alle Orte mit Videoüberwachung geeignet – auch Bahnhöfe oder Züge.

Das Bündnis Hansaplatz, Bündnis von ansässigen Initiativen, Vereinen, Sozialeinrichtungen und Anwohnern von Hbf und Hansaplatz, ist damit überhaupt nicht einverstanden. „Von wessen Sicherheit und Aufenthaltsqualität ist hier die Rede“, fragen sie. Den meisten Menschen, für die der Hansaplatz derzeit als Aufenthaltsort und Lebensraum dient, jedenfalls nicht. Auf dem Platz im Herzen des Viertels gibt es nicht mal unkommerzielle Sitzgelegenheiten. Die sozialen Einrichtungen der Umgebung, wie Suchtberatung, Sozialarbeiter, Obdachlosenhilfe, fragen seit Jahren nach mehr Geld. Stattdessen fließen jetzt tausende Euro in die KI gestützten Kamerasysteme, die die Menschen vom Hansaplatz 24/7 videoüberwacht und ggf. von der Polizei kontrolliert. Das hat lediglich einen Verdrängungseffekt, der denen gelegen kommt, die sich vom Anblick der zunehmenden Armut gestört fühlen. So wie Markus Schreiber (SPD). Er war von 2002 bis 2012 Bezirksamtsleiter in Mitte und damit zuständig für St. Georg. Heute wohnt er mit seiner Frau direkt am Hansaplatz in einem der prächtigen Altbauten. Die Videoüberwachung habe die Dealer vertrieben, sagt Schreiber, der die Videoüberwachung gefordert hat, obwohl er das Problem damit selber benennt. Vertreibung.

Wohin die Verdrängungsstrategie führt, kann man am Beispiel vom Görlitzer Park in Berlin sehr gut feststellen. 2015 startete die Polizei dort die Strategie der Null-Toleranz. Die Drogengeschäfte verlagerten sich dann in den nahegelegenen Wrangelkiez. Besonders spürt man das in der kalten Jahreszeit. Viele Menschen kommen in die Hauseingänge zum Schlafen, Konsumieren, auch um ihre Notdurft zu verrichten. Die Initiative Wrangelkiez- United fordert daher mehr soziale Angebote, Übernachtungsmöglichkeiten für Obdach- und Wohnungslose, Konsumräume und eine Arbeitserlaubnis für Menschen ohne Papiere, von denen sich einige aus Not prostituieren oder Drogen verkaufen.

Aber um über Schikanen der Polizei gegen Notleidende und Verdrängung zu sprechen, braucht man auch gar nicht ins entfernte Berlin schauen, sondern nur in das ein paar Fußschritte entfernte Hauptbahnhofgelände. “Die Verelendung nimmt immer mehr zu“, heißt es in der September-Ausgabe der Hinz&Kunz, dem Straßenmagazin von Hamburg. „Statt die Hilfsangebote auszuweiten, reagieren Stadt und Polizei mit Verboten [..]. Zuletzt mit einem Alkoholverbot auf dem Hachmann- und Heidi-Kabel-Platz.“ Sie formulieren ebenfalls den Bedarf einer massiven Aufstockung von Hilfsangeboten. „Auch wir beobachten eine Zunahme von Menschen in sehr schlechtem gesundheitlichen und körperlichen Zustand.“, schreibt die Essenausgabe „Essen für alle“ von der Tafel e.V. in der aktuellen Ausgabe des Stadtteilmagazins St.Georg- Borgfelde der Ev. -Luth. Kirchengemeinde und „Armut bekämpfen statt den armen Menschen“, äußert sich Landespastor Dirk Ahrens vom Diakonischen Werk (Evangelische-Lutherkirhe in Norddeutschland). Das hat die Ampel-Regierung aber nicht vor. Sie will stattdessen drastische Kürzungen im sozialen Bereich vornehmen.

Dass die Repression gegen Arme, insbesondere gegen (Ein-)Wandernde, bei der Polizei Tradition hat, beschreibt Leo Pilone eindrücklich in ihrem Artikel „Polizei und Rassismus in Deutschland – Eine historische Genese“ (Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus). Institutionelle Polizeiapparate entstanden in Europa in der Zeit des Übergangs von Feudalismus zum Kapitalismus. Von Königen und Fürsten wurden etliche Polizeiordnungen erlassen, die sich schwerpunktmäßig Kriminellen widmeten, Vagabunden, Bettler, Landstreicher, Diebes- und Räuberbanden, sprich vor allem arme Menschen. Sie sollten mit neuen Strafformen zu Lohnarbeit diszipliniert und keinen anderen Tätigkeiten nachgehen, die zur Sicherung des Lebensunterhaltes dienten. Auf diese Weise befriedigten die Herrschenden das Bedürfnis des Kapitals nach billigen Arbeitskräften. Darüber hinaus barg die miserable Stellung der Besitzlosen das Potential, dass sie sich gegen die Gesellschaftsordnung wandten, die für sie nur Elend vorsah. Und wegen ihrer Armut waren sie prädisponiert, das Privateigentum anderer anzugreifen und stellten so eine ständige Gefahr für die kapitalistische Ordnung dar. Im Merkantilismus wich die Körper- und Todesstrafe der Zwangsarbeit in Zuchthäusern oder als Ruderer auf den Galeeren, den Kriegsschiffen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die Arbeit als Ruderer auf den Galeeren war wegen der hohen Sterblichkeitsrate äußerst gefürchtet, weshalb staatliche Jagden auf Landstreicher organisiert wurden, um sie zur Strafe als Galeerensklaven einzusetzen. Polizeiliche Mittel waren das wichtigste Werkzeug zur Herstellung kapitalistischer Verhältnisse. Ohne eine selektive Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen hätte er nicht entstehen können. Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht die Verbindung von zunehmender Armut in Zeiten der kapitalistischen Krise und der Kriminalisierung und Repression der aus ihr resultierenden Verhaltensweisen ziehen.

Wie in der Migrationsdebatte nicht auf Fluchtursachen eingegangen wird, sondern sich in erster Linie von flüchtenden Menschen abgeschottet wird, ist nicht zu erwarten, dass mit Blick auf zunehmende Armut und Not, die Armut angegangen, sondern die Auswüchse notleidender Menschen verdrängt und diszipliniert werden, wenn es hier keinen breiten Widerstand gibt.

„Wir haben nur das Recht zu sterben“, spricht ein Redner der Gruppe Lampedusa in Hamburg ins Mikro des Lautsprecherwagens von der rund 200 Leute fassenden Kundgebung des Bündnisses Hansaplatz. Das Lampedusa Zelt am Hbf wurde mehrfach schikaniert und am Ende geräumt. „Vom Sterben hält uns keiner ab, aber wir kämpfen für das Recht zu existieren“.

Close