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Grenzenlose Kompromissbereitschaft für die Stellung als Regionalmacht des Westimperialismus

İhsan Çaralan

Der US-Sicherheitsberater Jake Sullivan erklärte am 18. Juni 2021 in einer Telefonkonferenz mit Pressevertretern, welche Aufgaben die Türkei nach dem Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan übernehmen soll: „Es wurde Einvernehmen darüber erzielt, dass bei der Sicherung des Hamid-Karzai-Flughafens in Kabul die Türkei eine führende Rolle übernimmt. Wir arbeiten jetzt an der konkreten Umsetzung dieser Aufgabe. Wir haben Vertrauen in die Türken, dass sie dieser Aufgabe gewachsen sind.“

Die Sicherung des Kabuler Flughafens war Gegenstand der Gespräche zwischen Biden und Erdoğan und die Übernahme der Aufgabe wurde als ein Zeichen des Entgegenkommens von Erdoğan an die USA interpretiert.

Erdoğan hatte auf der Pressekonferenz an sein Gespräch mit Biden erklärt, die türkische Seite habe ihre Meinung zum Thema Afghanistan klar und deutlich formuliert: „Wenn man nicht möchte, dass wir unsere Truppen aus Afghanistan zurückziehen, spielt die diplomatische, logistische und natürlich auch die finanzielle Unterstützung der USA an uns eine wichtige Rolle.“ So offen hatte der türkische Präsident die Stationierung türkischer Truppen mit US-Unterstützung verknüpft.

WOHER KOMMT DIESE BEREITSCHAFT ZUM EINSATZ ALS VORPOSTEN DES IMPERIALISMUS?

In seiner Erklärung wies Erdoğan auch auf die Notwendigkeit hin, „die Taliban-Realität nicht auszublenden“ und machte deutlich, dass eine Annäherung mit den Taliban eine wichtige Rolle spielen wird.

Es dürfte wohl im Zeitalter von Nationalstaaten nicht viele Beispiele dafür geben, dass ein Land in seinen Beziehungen zu einem anderen Land ohne ausdrücklichen Wunsch der Gegenseite einen solchen Kompromiss auf dem Silbertablett serviert hat. Dabei sollte man bedenken, dass es hierbei um ein Land wie Afghanistan geht, aus dem sich die USA und NATO nach einem 20 Jahre andauernden Krieg mit der Begründung zurückziehen, weil man dort doch „nichts mehr erreichen“ könne. Vor dem Hintergrund dieser eingestandenen Niederlage wird es umso weniger nachvollziehbar, warum Erdoğan bereitwillig die Sicherung des Kabuler Flughafens übernehmen möchte.

Ein interessanter Aspekt hierbei ist auch, dass Erdoğan nicht auf der Unterstützung von UN oder NATO, sondern der USA besteht.

Dabei beschäftigt man sich derzeit mit der Frage, wie man die Türkei wieder aus dem Sumpf befreien kann, in den man das Land in Syrien, Libyen und Mittelmeer getrieben hat. Und Afghanistan wird seit über einem Jahrhundert ebenfalls zu einem „Sumpf“, der jeden verschluckt, der sich dorthin begibt. Dass die Türkei dort allzu bereitwillig im Auftrag von Imperialisten als „Vorposten“ agieren möchte, erscheint als „suizidaler Drang“.

„AFGHANISTAN-EINSATZ“ WIRD DIE TÜRKEI INS VERDERBEN TREIBEN

Um die letzten Entwicklungen richtig einzuordnen, muss man sich ansehen, wie der Neo-Osmanismus und die expansionistische Außenpolitik der letzten 10 Jahre Erdoğan die Hände und Füße gebunden hat. Denn die Außenpolitik der Erdoğan-Regierung lässt ihn nunmehr erkennen, dass er keine andere Chance hat, als einen Kompromiss mit dem Imperialismus einzugehen.

Das erkannte nicht nur Erdoğan, sondern auch Biden. So hatte Biden an den EU-Gipfel im vergangenen März die Botschaft geschickt, Erdoğan sei zu jedem Kompromiss bereit. Mit seiner Rede vom 24. April, in der er den Völkermord an Armeniern anerkannte, hatte er darüber hinaus die Grenzen der Kompromissbereitschaft von Erdoğan ausgetestet.

Allerdings dürfte es auch Biden überrascht haben, dass Erdoğan selbst zu einem Kompromiss bereit ist, der auch einen türkischen Einsatz in Afghanistan enthält.

Mit diesem Angebot, das Erdoğan Biden auf einem Silbertablett serviert hat, machte er deutlich, dass er keine Probleme mit den Strategien des westlichen Imperialismus in der Region hat bzw. kleinste Kritikpunkte mit Gesprächen ausgeräumt werden könnten. So sendete er die Botschaft aus, dass er bereit ist, im Interesse der Imperialisten ins Verderben zu gehen. Sein Angebot versuchte er damit schmackhaft zu machen, dass er der Einzige sei, der die Sprache von Dschihadisten spreche und diese Gruppen beherrschen und bei Bedarf im Interesse des westlichen Imperialismus einsetzen könne. Kurzum: die Rolle der Türkei sei für den Westen unverzichtbar.

Im Jahre 2005 hatten die USA im Rahmen des „Greater-Middle-East-Projekts“ der Türkei die Rolle einer „Regionalmacht“ und eines „Modellstaats“ zugeschrieben. Nun zeigt Erdoğan, dass er bereit ist, diese Rolle auch weiterhin zu übernehmen.

BEIM „AFGHANISTAN-EINSATZ“ GEHT ES UM WEIT MEHR ALS DIE SICHERUNG DES FLUGHAFENS

Währen inzwischen die USA und ihre Verbündeten nach 20 Jahren Afghanistan verlassen, sind sich die Türkei und USA einig darüber, dass die Sicherheit und der Betrieb des Kabuler Flughafens in die Hände der Türkei gelegt werden. Man könnte sagen, dass man diesen Auftrag nicht übertreiben möge und es schließlich nur um die Sicherung eines Flughafens gehe.

Allerdings kann man schon heute absehen, dass es in diesem Einsatz nicht bei der Flughafensicherung bleiben wird. Wenn man bedenkt, dass die Taliban bei der Gestaltung der Zukunft des Landes eine bestimmende Kraft sein werden. Und sie fordern den Rückzug aller US-Verbündeten. Vor diesem Hintergrund nimmt die Türkei mit dem Afghanistan-Einsatz in Kauf, in einen Krieg mit den Taliban zu treten.

Vielleicht träumt Erdoğan davon, eine Verhandlungslösung mit den Taliban zu erreichen und zu einem Schirmherrn für Afghanistan zu werden. Dass dieser Traum wie in Syrien und Libyen zerplatzen wird, steht dabei eigentlich außer Frage.

Darüber hinaus werden die USA mit dem Truppenabzug aus Afghanistan nicht ihren Kampf um Vorherrschaft in der Region aufgeben. Und Afghanistan wird zum Schlachtfeld in einem immer brutaler werdenden Stellvertreterkrieg, an dem die USA, Russland, China und der Iran beteiligt sind.

Diese Probleme sind so groß, dass Erdoğan sie auf dem Wege von Verhandlungen mit Taliban nicht lösen kann. Die Rolle als „Führer der weltweiten islamischen Gemeinschaft“, die Erdoğan gerne spielen möchte, scheint also genauso unrealistisch, wie die Wahrscheinlichkeit, dass der Neo-Osmanismus, der in Syrien, Libyen, im östlichen Mittelmeer oder auf dem Kaukasus scheiterte, in Afghanistan zum Erfolg führen könnte.

Mit dem “Afghanistan-Einsatz” treibt also Erdoğan das Land in ein neues Abenteuer.

Es bleibt zu hoffen, dass die Opposition dieses Mal den “Afghanistan-Einsatz“ als eine „Frage der nationalen Sicherheit“ betrachtet und nicht Erdoğan bei seinem Vorhaben den Rücken stärkt.

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