Annelie Weizmann
Jeder fünfte Jugendliche erkrankt mittlerweile an einer psychischen Krankheit und auch durch die Corona-Pandemie hat sich die Lage der mentalen Gesundheit von Jugendlichen verschärft. Vor allem Depressionen, Angststörungen oder Panikattacken nehmen zu. Nicht zuletzt hat die DAK-Auswertung ergeben, dass Faktoren, wie Klimawandel, Kriege, politische Krisen und Zukunftsängste erheblich dazu beitragen, dass Jugendliche Depressionen und Ängste entwickeln.
Es wird immer sichtbarer, wie die Verhältnisse, in denen wir leben, arbeiten und lernen müssen, sich ganz maßgeblich auf die mentale Gesundheit auswirken. In Zeiten von Kriegen, Krisen, der Inflation und dem Klimawandel fragen sich viele Jugendliche, wo das alles noch hinführen soll und wie eine lebenswerte Zukunft hier für uns überhaupt noch aussehen soll: Das mentale Wohlbefinden ist dabei geprägt von Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit und Zukunftsängsten. Während psychische Erkrankungen steigen, sehen wir gleichzeitig, dass fast ein Viertel der Jugendlichen in Armut lebt. Finanziell prekäre Verhältnisse tragen maßgeblich zu psychischen Erkrankungen bei: Junge Menschen müssen unter all diesen Bedingungen damit zu Recht kommen, die Mieten rechtzeitig zu zahlen, den Kühlschrank zu füllen und gleichzeitig natürlich auch mal spaßige oder erholende Dinge erleben und Freizeit- und Kulturangeboten nachgehen, welche nicht auch zuletzt ins Portemonnaie gehen können. Jugendliche kommen immer mehr an ihre finanziellen Grenzen und die ständige Sorge darum, wie man über die Runden kommt, belastet die Psyche ganz konkret.
Lebensbedingungen als Ursache
Die Bedingungen, unter denen Jugendliche zur Schule, Arbeit oder Uni gehen müssen, verschärfen die Lage immer weiter: Die Ausbildungsvergütungen oder das BAföG reichen nicht zum Leben aus. Die Bildungsstätten sind kaputt gespart und werden nach einem Leistungsprinzip gemessen, die soziale Faktoren außer Acht lässt und Schüler, Studierende und Azubis sind einer enormen Arbeitsverdichtung und Stress ausgesetzt. All das führt konkret dazu, dass die finanziellen Sorgen, die psychische Belastung und Zukunftsängste der Jugendlichen immer größer werden. Und verstärkt durch Faktoren wie Lockdowns während der Pandemiezeit wurden Rückzug und Isolation von Kollegen, Mitschülern, Kommilitonen und dem Schul- und Unialltag als Option alltäglich. Die Krankenkassen und viele Teile der Politik sind sich hinsichtlich der Lösungsfindung einig: für mehr Prävention müsste es niedrigschwellige Angebote geben, Bürger sollen besser aufgeklärt werden und die psychische Gesundheit müsse entstigmatisiert werden. So soll es vermehrter sogenannte „Mental-Health-Coaches“ an Schulen geben und auch an der Uni gibt es mittlerweile Workshopangebote zu „Psychisch gesund durch Krisenzeiten“ oder Angebote, die sich konkret auf „Studienprobleme“ und „Lern- und Arbeitsschwierigkeiten“ beziehen. Gesetzt wird bei all diesen Maßnahmen vor allem auf eins: die persönliche Resilienz stärken. Dazu gehört einen individuellen Umgang mit alldem zu finden und persönliche, vermeintliche Störungen als Reaktion auf die sozialen Verhältnisse in den Griff zu bekommen. Aber die Probleme sind nicht dem Individuum geschuldet, sondern haben eine gesamtgesellschaftliche Ursache. Die Lösung der explosionsartigen Vermehrung von psychischen Problemen muss also durch Umgestaltung der gesellschaftlichen Prozesse nachhaltig bekämpft werden, statt jedes einzelne Individuum mit speziellen Symptomen zu „korrigieren“.
Trotzdem wird bei uns gespart
Während also vermeintlich die Förderung der individuellen mentalen Gesundheit vermehrt auf die Tagesordnung gesetzt wird, sehen wir in der Realität jedoch andere Prioritäten: Vor allem mit dem neuen Haushaltsplan wird im sozialen Bereich, darunter das BAföG, das Wohngeld, den Gesundheitsbereich gekürzt, eine Kindergrundsicherung wird nicht umgesetzt und der Kriegsetat und Steuererleichterung für Konzerne werden aufgestockt. Es wird entgegen den sozialen Problemen, die maßgeblich zu psychischen Krankheiten beitragen, gearbeitet. Dabei sehen wir auch weiterhin den enormen Therapieplatzmangel und die Suche nach einem Therapieplatz ist für Kassenpatienten oft ernüchternd: Man wartet lange, wird teilweise abgelehnt oder man landet in den falschen Therapieformen, die nicht auf die Bedürfnisse abgestimmt sind. Neben den Einsparungen im Gesundheitssektor sieht man auch weiterhin die Privatisierung von Krankenhäusern, welche nicht zu einer besseren Versorgung hinsichtlich therapeutischer Maßnahmen beitragen kann.
Wir sollen uns „anpassen“
Während der gesellschaftliche Ursprung von physischen Erkrankungen ausschlaggebend ist, wird die Lösungsfindung und die Verantwortung dafür, dass es einem besser geht, weiterhin extrem individualisiert und das Prinzip bleibt erhalten: Anstatt, dass die Bedingungen sich auf die menschlichen Bedürfnisse und Kapazitäten anpassen, sollen wir uns alle individuell an diese besser anpassen lernen. So gibt es neben den Workshops und Angeboten auch unter Jugendlichen und innerhalb der sozialen Netzwerke einen immer größer werdenden Trend der Selbstoptimierung. Unter all diesen Bedingungen soll der perfekte Alltag mit Sport, gesunder Ernährung, Arbeit, Lernen und Freizeit konstruiert und durch Meditation und Atemübungen eine Auszeit aus der Realität geschaffen werden. Den Menschen wird einerseits die Verantwortung für die Lösung der psychischen Belastung selbst auferlegt und andererseits wird vermittelt, dass man daran auch noch selbst schuld sind, weil man nicht resilient genug sei oder sich nicht gut genug optimieren würde.
Bei einem so gesellschaftlichen Problem, wie dem der psychischen Gesundheit und dessen gesellschaftlichen Ursprung dahingehend, dass die Verhältnisse von Gedanken- und Gefühlswelt maßgeblich beeinflussen, darf die Lösung nicht mehr als eine solche Einbahnstraße, also den Weg der Anpassung des Individuums an die Verhältnisse, verstanden werden. Und so darf Entstigmatisierung auch nicht nur Erfahrungsaustausch bedeuten und ein größeres Bewusstsein aller Bürger darüber, wie schlimm es jetzt ist, dass so viele aufgrund der Arbeits- und Lernverhältnisse psychisch erkranken, sondern auch ganz konkret die Ursachen aufzuzeigen und damit einhergehend sich auch genau gegen die Bedingungen zu richten, die uns fortlaufend schädigen. Und so braucht es auch Maßnahmen, die tatsächlich die Ursache der Belastungen und Sorgen der Jugendlichen treffen und nicht nur solche, die so gerade noch mit Workshopangeboten versuchen, all die Auswirkungen abzufangen, um so eine Anpassung der Verhältnisse auf die Bedürfnisse zu ermöglichen.