Zeynem Arslan / Wien
Bei den Parlamentswahlen am 29. September hat die Österreichische Volkspartei (ÖVP) die Stimmen, die sie bei den Wahlen 2019 unter der Führung von Sebastian Kurz von der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) gewonnen hatte, zurückgegeben. Bei einer Wahlbeteiligung von 78 Prozent kam die FPÖ mit 28,9 Prozent der Stimmen auf den ersten Platz. Die ÖVP erhielt 26,3 Prozent der Stimmen. Im Vergleich zu 2019 konnte die FPÖ 12,7 Prozent der Stimmen hinzugewinnen, während die ÖVP 11,2 Prozent verlor.
Sebastian Kurz war der Mann, der die ÖVP von den christlich-sozialen Werten weg und näher an den rechten Rand geführt hat. Kurz, der das Ende seiner politischen Karriere durch Korruption, den Kauf von Medienunternehmen, Erpressung und die Plünderung der Staatskasse für seine Anhänger vorbereitete, arbeitet jetzt für Peter Thiel, einen amerikanischen Milliardär österreichischer Herkunft und Anhänger von Donald Trump. Die Presse berichtete auch, dass Kurz, der als „Vertreter des Trumpismus“ bezeichnet wird, seit 2022 für zwei Unternehmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten tätig ist. Die FPÖ, die dank Kurz die Chance hatte, 2017 Regierungspartner zu werden, brachte die Regierung mit dem Korruptionsskandal und dem versuchten Verkauf der Medien des Landes an russische Oligarchen ebenfalls zum Scheitern. Nach dem skandalbedingten Rücktritt von Kurz führte Bundespräsident Van der Bellen das Land mit einer provisorischen „Expertenregierung“ aus Spitzenbürokraten zu vorgezogenen Neuwahlen 2019.
Remigrationspläne
Die FPÖ, die zuvor durch den Ibiza-Skandal erschüttert worden war, wollte mit einem Führungswechsel unter Herbert Kickl bei den Wahlen 2024 wieder Regierungspartner werden. Indem sie die Ängste und Sorgen der österreichischen Bevölkerung während der Pandemiezeit ausnutzte, gelang es ihr, eine ernstzunehmende rechtsradikale und rassistische Oppositionsbasis auf der Straße zu bringen. Kickl, der über einen soliden rassistischen ideologischen Hintergrund und eine entsprechende Rhetorik verfügt, gelang es, dass die FPÖ bei den diesjährigen Parlamentswahlen als stärkste Partei hervorgeht. Zusätzlich zu den Stimmen, die sie der ÖVP abnahm, gelang es ihr, eine große Anzahl von Stimmen von jenen zu gewinnen, die zuvor nicht zur Wahl gegangen waren. Die FPÖ, die vor allem Stimmen von Werktätigen und wirtschaftlich schlechter Gestellten erhielt, konnte ihre Stimmenzahl durch das Schüren von Feindseligkeit gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund erhöhen. Die FPÖ bietet keine Lösungen für die wachsenden Probleme im Zusammenhang mit steigenden Kosten, Inflation, Mieten, Sozialhilfe und Gesundheitsversorgung an, sondern macht Migrant:innen und Geflüchtete für alle Probleme verantwortlich. Dadurch werden die Mechanismen des strukturellen Rassismus und der Ausgrenzung weiter verstärkt. Sie macht über “Remigrationspläne” Politik.
Jeder dritte Wahlberechtigte befürwortet Abschiebungen
Während die demographische Struktur des Landes überaltert und der Arbeitskräftemangel immer größer wird, befürwortet jeder dritte Wahlberechtigte die Abschiebung von Migrant:innen. Das Versagen Österreichs bei der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges und die mangelhafte Vermittlung von Geschichte und Allgemeinbildung in den Schulen wurden erneut bestätigt. Gleichzeitig hat die Vorstellung, dass Geflüchtete die Hauptursache aller sozialen und wirtschaftlichen Probleme seien, für einen Teil der türkeistämmigen Menschen, die seit 60 Jahren in Österreich leben und arbeiten, an Bedeutung gewonnen. In der Tat hat eine beträchtliche Anzahl von Türkeistämmigen die FPÖ gewählt.
Sozialdemokraten und Grüne haben ihre Erwartungen nicht erfüllt
Die Sozialdemokratische Partei (SPÖ) hatte seit 1983 ihre Macht verloren und die Ära der Koalitionsregierungen hatte begonnen. Die SPÖ, die nicht auf die Bedürfnisse und Forderungen der Menschen einging, verlor weiterhin potentielle Wählerstimmen an jene, die ihr Wahlrecht bei dieser Wahl nicht ausübten. Während die SPÖ mit 21 Prozent der Stimmen ihre Basis halten konnte, verlor ihr Koalitionspartner, die Grünen, 5,7 Prozent. Andreas Babler, ehemaliger Bürgermeister von Traiskirchen im Burgenland, wo sich das größte Geflüchtetenlager Österreichs befindet, kandidierte als SPÖ-Kanzlerkandidat. Der populistische und linke Politiker, der sich selbst als Marxist bezeichnet, scheint mehr Wähler aus der Mittel- und Oberschicht für sich gewonnen zu haben, die von den Grünen, seinem Koalitionspartner in der Regierungsperiode 2019-2024, enttäuscht waren. Die SPÖ hat jedoch die Erwartungen nicht erfüllt und ist nicht über die Rolle einer dritten Partei hinausgekommen.
Die Frage ist, ob die ÖVP mit 26,3 Prozent eine Koalition mit der FPÖ eingehen wird. Bundespräsident Aleksander Van der Bellen erinnerte am Wahlabend daran, dass es am Ende des Tages an ihm liege, den Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen. Es wird erwartet, dass Van der Bellen, der zuvor erklärt hatte, er werde keiner Regierung mit FPÖ-Beteiligung zustimmen, zunächst Sondierungsgespräche aufnehmen wird. Die letzten Regierungen der ÖVP mit SPÖ und Grünen waren bei der ÖVP nicht gut angekommen. Als Koalitionspartner zeichnen sich ÖVP, SPÖ und NEOS ab. Die NEOS, die sich zuvor von der ÖVP abgespalten hatte und eher städtisch geprägt ist, hat in der Hauptstadt Wien eine sehr harmonische Regierungspartnerschaft mit der SPÖ. In der Frage des deutschsprachigen Schulunterrichts für Schüler mit Migrationshintergrund und in der Wirtschaftspolitik zugunsten der Kapitalbesitzer steht die NEOS der ÖVP näher als die Grünen.
Wird die FPÖ wieder Koalitionspartner?
Es bleibt abzuwarten, aus welchen Gründen die FPÖ, die ein Drittel der Stimmen erhielt, erneut von der Regierungsbildung ausgeschlossen wird. Die mittlerweile als faschistisch eingestufte FPÖ wurde 1956 von ehemaligen Nationalsozialisten gegründet und bekennt sich bis heute nicht offen zum Holocaust. Die Partei, die zuletzt durch den Skandal um das Abspielen faschistischer Musik bei einem Begräbnis auffiel, ist auch für ihre Nähe zur rassistischen Identitären Bewegung bekannt, deren Chef Martin Sellner sogar mit einem Einreiseverbot belegt wurde. Die skandalöseste Tat von Herbert Kickl, der in der Koalitionsregierung mit Kurz Innenminister war und nun FPÖ-Vorsitzender und Kanzlerkandidat bei den letzten Wahlen ist, war sein Versuch, mitten in der Nacht den Verfassungsgerichtshof zu stürmen und Beweise und Dokumente über die Identitären vernichten zu lassen.
Einige österreichische Schriftsteller, Journalisten und Akademiker argumentieren, dass es zwar demokratisch sei, dass die FPÖ als legale Partei an Wahlen teilnehme, dass es aber der Demokratie nicht diene, wenn sie eine Regierung bilde. Gleichzeitig haben Oppositionsgruppen am 3. Oktober ihren „Donnerstagsmarsch“ wieder aufgenommen. Dieser war im Jahr 1999 entstanden, um gegen die Bildung einer Regierungspartnerschaft zwischen der FPÖ und der ÖVP zu protestieren, obwohl die SPÖ mit 33,2 Prozent die stärkste Partei war.
Ein weiteres wichtiges Detail der Parlamentswahlen vom 29. September ist die Teilnahme der „Liste GAZA – Stimmen gegen den Völkermord (GAZA)“ an den Wahlen. Die Gaza-Liste, eine neue Partei, die erst vor kurzem gegründet wurde, konnte mit 0,4 Prozent der Stimmen auf sich aufmerksam machen. Es ist jedoch noch unklar, woher sie ihre Organisation, ihre Ressourcen und ihre Dynamik zur Mobilisierung von Wählern bezieht. Obwohl sie die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Thema lenkt, scheint es, dass die Wahl vom 29. September, die eine sehr kritische Wahl war, eine leichte Spaltung der Stimmung in der Oppositionsfront hervorgerufen hat. Diese bleibt, obwohl sie vor allem in Gebieten mit hoher Migrationsquote Stimmen gewinnt und obwohl der strukturelle Rassismus im Land zunimmt, weit entfernt von den Themen, die die Menschen aus sozialen und politischen Gründen direkt betreffen und betreffen werden. Somit bewegt sich die Opposition auf einer parallelen Linie.
Die KPÖ schließlich blieb zwar unter der 4-Prozent-Hürde, erreichte aber mit 2,4 Prozent ihren höchsten Stimmenanteil der letzten 30 Jahre. Die KPÖ, die auf lokaler Ebene einen sehr positiven Kurs eingeschlagen und sich ihren Platz in den Gemeinderäten gesichert hat, wird sich nun mit großer Entschlossenheit auf die im nächsten Jahr stattfindenden Landtagswahlen in der Bundeshauptstadt Wien vorbereiten.