Written by 18:00 HABERLER

Nicht alle können in der Pandemie zuhause bleiben

Emre Ögüt

Kaum ist die erste Welle durch, befinden wir uns in der zweiten Welle. Und wieder appelliert die Bundeskanzlerin an die Massen, wir mögen bitte zuhause bleiben und Kontakte meiden. Eine Gruppe an Menschen wurde dabei bereits während der ersten Welle konsequent ignoriert und wird auch jetzt in der zweiten Welle nicht näher beachtet: Die Obdachlosen. Und diese Haltung hat knallharte Folgen: Acht obdachlose Menschen haben in den letzten sechs Monaten auf der Straße ihr Leben verloren – allein in Hamburg, so das Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt. Statistisch lässt sich schwer quantifizieren, wie viele Obdachlose verstorben sind, denn Erhebungen seitens Bund, Länder oder Kommunen gibt es nicht. Eine Widerspiegelung der Haltung des Staates gegenüber der Obdachlosigkeit.

Doch es braucht keine Statistik, um sich vorzustellen, dass bei einer Pandemie, in der das höchste Gebot der Stunde sei, zuhause zu bleiben, diejenigen am härtesten getroffen werden, die kein Zuhause ihr Eigen nennen können. Wie soll man sich die Hände waschen, wenn kein Waschbecken da ist? Das ist eine besonders dramatische Frage, da die Obdachlosen durch das Leben auf der Straße körperlich geschwächt werden und damit zur Risikogruppe zählen. Doch das alles interessiert den Staat nicht. Es bleibt bei Appellen und warmen Worten.

Dies ist aber auch kein Wunder; während mit dem Beginn der Pandemie ein Milliardenprogramm für die Wirtschaft aufgesetzt wurde, gab es Almosen für die werktätige Bevölkerung. Dass eine solche Regierung nichts für Obdachlose übrig hat, verwundert nicht. Und dennoch lässt es einem das Blut gefrieren, wenn man sieht, wie einfach es für eine Regierung wäre, die sich gerne als moralischer Grundpfeiler der Gesellschaft profiliert, das Problem zu lösen. Andere haben es nämlich schon vorgemacht. Aufgrund einer Großspende von 150 000 € konnten Hinz & Kunzt und das Diakonische Hilfswerk 170 Hamburger Obdachlose monatelang in Hotels und Pensionen dezentral unterbringen. Damit waren sogar zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Obdachlose fanden eine Unterkunft, die von der Pandemie angeschlagenen Hotels und Pensionen eine Einnahmequelle.

Sobald das Geld ausging, war das Projekt auch wieder Geschichte. Die Stadt Hamburg hatte kein Interesse an ihrer Fortführung, obwohl die Unterbringung problemlos war. Während einerseits das bisherige Angebot als ausreichend empfunden wird, führt der Hamburger Senat an, sie würden mit gut ausgestatteten Obdachlosenhilfsprogrammen Obdachlose aus anderen Städten anziehen. Solche Mythen im Kontext der Obdachlosigkeit und Armut hört man oft. Auch Behauptungen wie, dass manche Obdachlose freiwillig auf der Straße leben würden. Dass sie selbst schuld an ihrem Elend seien. Oder dass manche Menschen, die obdachlos sind, nur so tun, als ob, um bandenmäßig Spenden zu sammeln. Aussagen dieser Art haben wir alle schon gehört und ihren Effekt kennen wir auch alle: Wir zweifeln, wenn wir einem Bettler begegnen. Manche schnüffeln ihnen sogar nach, als hätten diese Menschen kein Recht auf Privatsphäre. Wir ignorieren es, wenn wir Obdachlose sehen. Wir entsolidarisieren uns mit denen, die das System zerrissen hat.

Ebenjenes System, das System des Kapitalismus, das Menschen auf den Straßen dem Tode ausliefert, hat eine Kultur der Ellbogengesellschaft und des Nach-unten-Tretens unter uns verbreitet. Und ganz unten in dieser Hierarchie stehen die Obdachlosen. Statt uns mit denen, die sich selbst schwer wehren können, zu solidarisieren und für sie ein Recht auf Wohnen und ein menschenwürdiges Leben zu fordern, geht jeder seiner Dinge und schaut über das Elend hinweg. Behauptungen und Mythen über Obdachlose, wie jene im vorigen Absatz, erleichtern das Gemüt dabei. Wir müssen verstehen, dass sich niemand, wirklich niemand ein Leben in Obdachlosigkeit wünscht. Und landet man erst einmal auf der Straße, kommt man schwer wieder weg. Auf staatliche Hilfe ist dabei, wie wir gesehen haben, kein Verlass. In so eine Situation könnte jeder von uns durch Schicksalsschläge kommen; niemand wünscht es sich, sich in so einer ausweglosen Situation wiederzufinden.

In dieser Pandemie ist es so dringend wie nie, dass wir uns als Menschen der Arbeiterklasse und der werktätigen Bevölkerung solidarisch mit allen zeigen, die „unten“ stehen. Ob Obdachloser, Geflüchteter, Hartz-IV-Empfänger oder Lohnarbeiter, unsere Interessen sind die gleichen. Und auch wenn uns der Konkurrenzkampf untereinander nahegelegt wird, müssen wir wissen, dass die Solidarität unsere stärkste Waffe ist. Gemeinsam können wir ein gutes Leben für uns alle erkämpfen.

Denn das Geld ist da. Geld ist immer da. Denn Geld verschwindet nie, sie wechselt nur den Besitzer. Und in einer Gesellschaft, in der die Oberen nach unten kämpfen, fließt das Geld in entgegengesetzte Richtung. Die Luftfahrt liegt am Boden und mit ihr bangen die Beschäftigten um ihre Arbeit, gleichzeitig boomt das Geschäft in der privaten Luftfahrt. Der Einzelhandel kämpft mit dem Bankrott, gleichzeitig verdreifacht Amazon seinen Gewinn. Menschen sterben auf der Straße, gleichzeitig wächst das Vermögen der deutschen Dollarmilliardäre um 100 Milliarden an.

Diese Krise ist wie jede Krise auch, eine Systemkrise. Doch wie wir sehen, kann das Wort „Krise“ je nach Klassenzugehörigkeit dem einen den Gedanken an den finanziellen Ruin hervorrufen, dem anderen aber eine goldene Zeit wittern lassen. In dieser Krise sitzen wir mitnichten alle in einem Boot. Die Reichen lassen sich von der Regierung massenhaft Programme beschließen, um ihre Profite nicht zu gefährden, die Arbeiterklasse geht leer aus. Jahrelang wurde uns ein Spardiktat auferlegt, angeblich der „Zukunft unserer Kinder“ willen. Einer Schätzung vom Juli diesen Jahres zufolge lebt jedes fünfte Kind nun in Armut. Wo ist nun das Geld, das wir uns am Munde absparen mussten, indem Jugendhäuser, Schwimmbäder und sonstige öffentliche Einrichtungen verkleinert oder ganz geschlossen wurden? Sie sind wieder in die Taschen der Reichen gewandert. Für die Zukunft „ihrer“ Kinder.

Der Kapitalismus zeigt mit jedem Tag deutlicher seine grässliche Visage. Die Unruhe und Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse wächst und die Kampfbereitschaft steigt, wie wir in den Tarifauseinandersetzungen des öffentlichen Dienstes sehen konnten. Doch der Kampf darf sich nicht auf Appelle oder einfache Lohnforderungen beschränken. Die Arbeiterklasse muss sich entschieden gegen die Abwälzung der Krise auf ihren Rücken stellen. Die finanziellen Mittel, uns allen einen sicheren Ausweg aus der Pandemie, ein Obdach und Auskommen zu bieten, sind in unserer Gesellschaft vorhanden. Nur sind diese Mittel in den Händen einiger weniger. Wir müssen diese Mittel für das Gemeinwohl zurück erkämpfen.

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