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Polizeigewalt gegen gehörlose Zwölfjährige: „Sie sind reingelaufen wie bei einem Einsatz gegen Schwerverbrecher“ – Rechtsanwalt Simón Barrera González

Sezen Dinç

Der Polizeieinsatz in der Nacht auf Montag, den 17. November 2025 in Bochum-Hamme, bei dem eine zwölfjährige gehörlose Vermisste durch Schüsse schwer verletzt wurde, wirft weiter Fragen auf. Beamte setzten Taser und Schusswaffe ein – Maßnahmen, die bei Minderjährigen eigentlich verboten sind. Offizielle Darstellungen, wonach das Mädchen die Polizei mit Messern angegriffen habe, wurden von vielen Medien ungeprüft übernommen.

Der Rechtsanwalt Simón Barrera González hat sich zu Wort gemeldet. Sowohl bezüglich der Aussage des NRW-Innenministers Herbert Reul als auch zu den Darstellungen der Polizei, die nicht zu den Schilderungen der Mutter und des Bruders passen.

Nachdem Reul in der Sondersitzung des Innenausschusses die Kritik am Einsatz zurückgewiesen und erklärt hatte, der Schusswaffengebrauch könne „auch gegen eine Zwölfjährige“ gerechtfertigt sein, reagierte nun der Anwalt des verletzten Mädchens. Rechtsanwalt Gonzalez zeigt sich „schockiert“ über Reuls Auftritt. Der Minister habe keinerlei Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte seiner Mandantin genommen und wiederholt von einem angeblichen Messerangriff, von akuter Lebensgefahr für die Polizisten sowie vom Gesundheitszustand und familiären Hintergründen des Kindes gesprochen. Angaben, die nach Auffassung des Anwalts nicht vom Auskunftsrecht der Behörden gedeckt seien.

Nicht nur die Aussagen Reuls sind schockierend, sondern auch die Schilderungen der Polizei, die von den einzigen nicht-polizeilichen Zeugen entschieden zurückgewiesen werden. Entgegen der von Polizei und Medien verbreiteten Schilderungen habe es nach Angaben der Mutter und des Bruders – beide wie das Mädchen gehörlos – zu keinem Zeitpunkt einen Messerangriff gegeben, noch sei ein solcher zu erwarten gewesen. Eine Notwehrlage habe damit nicht bestanden.

Die Familie wurde von den Behörden bislang nicht vernommen. Auch González konnte erst vergangene Woche mit ihnen sprechen. Weil die Mutter deutsche, der Bruder jedoch serbische Gebärdensprache nutzt, ist der Anwalt auf Unterstützung aus der internationalen Gehörlosen-Community angewiesen.

Anwalt González erklärt gegenüber „nd“, dass der Zugriff „wie gegen Schwerverbrecher“ erfolgt sei: Strom abgestellt, Tür aufgebrochen, Waffen sofort gezogen, eine Eskalation, die dem Umgang mit vulnerablen Menschen völlig widerspreche. Die Mutter wurde bereits am Boden fixiert, bevor die Schüsse fielen. Bodycams blieben ausgeschaltet, angeblich wegen eines „Routine-Einsatzes“, eine Darstellung, die erneut den Schilderungen widersprechen.

Die Kommunikationsstrategie von Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenministerium bewertet er als „schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung“, auch das äußerte er im Gespräch mit „nd“, zumal die Familie durch die Berichterstattung identifizierbar geworden sei. Für die Ermittlung ist die Mordkommission der Polizei Essen beauftragt. Unabhängige Untersuchungsstellen, die mögliche Kumpanei unter beteiligten Beamten ausschließen könnten, gibt es weiterhin nicht.

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