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Sind wir immun gegen Polizeigewalt?

In Deutschland passieren immer wieder Fälle von tödlicher Polizeigewalt. Menschen sterben in Zellen, werden zu Boden gedrückt, bis sie sterben oder auf offener Straße erschossen. Die Proteste dagegen sind überschaubar, der Rückhalt für die Polizei ist stark. Also müssen wir uns die Frage stellen: ist Polizeigewalt so normal, dass wir sie einfach hinnehmen?

Was unterscheidet Deutschland?

Es ist der 25.05.2020. Ein US-amerikanischer Polizist drückt George Floyd mit seinem Bein an der Kehle auf den Boden. Floyd keucht immer wieder „ich kann nicht atmen“, der Polizist macht weiter. George Floyd stirbt an diesem Tag, der Grund dafür ist Polizeigewalt. Dieser immensen Gewalt war er ausgesetzt, weil er schwarz war. Genauso, wie Millionen anderer Schwarzer oder Hispanics in den USA Schikanen oder Gewalt durch die Polizei tagtäglich ausgesetzt sind. Dass der Rassismus in den US-Behörden tief verankert ist, ist hinreichend untersucht, doch der Fall von George Floyd brachte das Fass zum Überlaufen. Zehntausende gingen auf die Straßen und forderten ein Ende von rassistischer Polizeigewalt. Auch in Deutschland solidarisierten sich Tausende. Immer wieder sind es vor allem junge Menschen, viele von ihnen auch selbst mit Migrationshintergrund, die sich versammeln und „Black Lives Matter“ rufen. Auch wenn die Proteste mit der Zeit abnahmen, haben sich Tausende gegen Rassismus und die Willkür der Polizei gestellt.

Es ist der 23.12.2023, ein Tag vor Heiligabend. Der Stadtteil „Schönau“ ist ein Randbezirk von Mannheim. Einer von vielen Stadtteilen, die aufgrund von niedrigen Mieten attraktiv für Menschen aus der Arbeiterklasse waren und sind. Auch migrantische Arbeiterfamilien, viele von ihnen Türkeistämmige, sind in Schönau Zuhause. Es ist kalt an diesem 23. Dezember. Trotzdem läuft ein Mann mit freiem Oberkörper aus dem Mietshaus, in dem er mit seinen Eltern und drei Kindern lebt. In der Hand ein Messer. Der Mann ist Ertekin Ö., ein 49-jähriger. Mehrere Polizisten stellen Ertekin auf der Straße. Sie fordern ihn auf, das Messer wegzuwerfen. Er macht zwei Schritte auf sie zu, die Polizisten schießen aus weiter Entfernung. Vier Kugeln treffen ihn im Brustkorb, er fällt zu Boden und die Polizei legt ihm anschließend Handschellen an. Im Hintergrund die Schreie seiner Mutter und Tochter, die alles mitangesehen haben. So wie auch die halbe Nachbarschaft. Mehrere Videos entstehen, die die Schüsse dokumentieren. Ertekin Ö. stirbt an den Schüssen. 1 ½ Jahre nachdem Beamte der Mannheimer Polizei einen Mann am Marktplatz getötet hatten, gibt es erneut einen Fall von tödlicher Polizeigewalt. Hier aber sind es keine Zehntausende, die auf die Straßen gehen. 500 Menschen folgen dem Aufruf der Initiative 2. Mai, die sich mit Polizeigewalt beschäftigt, zur Mahnwache. An einer weiteren Kundgebung wenige Tage später nehmen ebenfalls 500 Personen teil. Die Frage, die sich stellt ist also: wenn Tausende gegen Polizeigewalt und Rassismus, der in den USA passiert, auf den Straßen sind, warum sind sie es dann nicht, wenn genau das Selbe vor der eigenen Tür passiert? Der Guinear Ibrahim B., der mit einem Polizei-Taser am 6.01.24 in Mülheim getötet wurde, schaffte es sogar gerade mal so in die Nachrichten. Was also unterscheidet George Floyd von Oury Jalloh, Mouhamed Dramé, den Kroaten Ante P., der am Mannheimer Marktplatz getötet wurde oder Ertekin Ö.?

Die Staatsgewalt

Sicherlich keine faire Frage, aber trotzdem eine berechtigte. Die Solidarität, die die Menschen mit George Floyd und der Black Lives Matter Bewegung gezeigt haben, war beeindruckend und dringend notwendig. Doch braucht es doch auch das gleiche Maß an Solidarität, wenn Menschen hier in Deutschland durch die Hand der Polizei sterben. Was jedoch unterscheidet, sind ein paar entscheidende Punkte.

Das Vertrauen in die Polizei ist groß. Im Frühjahr 2023 gaben 77% der Befragten beim Eurobarometer der Europäischen Kommission an, dass sie Vertrauen in die Polizei haben. Das spiegelt sich unter anderem auch in den Kommentaren auf Social Media wieder, die unter Beiträgen, die die Polizeigewalt in Mannheim kritisieren, zu finden sind. Die Polizei habe alles richtig gemacht, der Getötete sei eine Gefahr gewesen und hätte früher oder später jemanden verletzt, so viele Kommentare auf Facebook. Bekannte von Ertekin Ö. aus der Schönau erklärten übrigens, dass seine psychischen Probleme bekannt gewesen, er aber noch nie jemandem Gewalt angetan hätte. Aber die Vorstellung, dass die Polizei jemanden getötet haben könnte, der keine „Gefahr für die Gesellschaft“ ist, ist für viele untragbar. Dabei wird die Rolle der Polizei missinterpretiert. Sie ist nicht der Beschützer der einfachen Menschen, sondern die unmittelbare Vertretung der Staatsgewalt. Sie steht bei Demonstrationen auf der Gegenseite, kontrolliert willkürlich Menschen mit Migrationshintergrund, geht bewaffnet und aggressiv in Arbeiter- und Migrantenviertel, erschießt Menschen, erschlägt Menschen. Die Polizeigesetze, die in den vergangenen Jahren eingeführt wurden, statten die Polizei nur mit noch mehr Macht aus. Das und die fehlenden Konsequenzen von rassistischen Handlungen und Gewaltanwendung machen die Polizei erst zur wirklichen Gefahr für die Gesellschaft. Nur ist sich ein großer Teil unserer Gesellschaft dieser Gefahr noch nicht bewusst. Man solidarisiert sich lieber mit den Tätern, als mit den Menschen, die ihre Opfer wurden. Dass Ante P., Ertekin Ö. oder der erst 16-jährige Dortmunder Mouhamed Dramé psychische Probleme hatten, macht es noch schwieriger. Schließlich sind psychische Erkrankungen noch stark stigmatisiert, die Empathie mit den Erkrankten ist oft gering.

Die Scheinheiligkeit

Den Rassismus in Behörden von anderen Ländern anzuprangern, aber den im eigenen Land nicht zu sehen, ist übrigens nicht nur in Deutschland der Fall. Denn während sich ein Teil der Bevölkerung hinter die Polizei stellt, versuchen reaktionäre Kräfte immer wieder solche Fälle für ihre spalterische Politik zu nutzen. Nach dem Tod von Ertekin Ö. waren plötzlich Lobbyorganisationen der AKP und andere rechte Gruppen anwesend. Es ging mal wieder darum, dass „DIE Deutschen“ „UNS Türken“ töteten. Man würde sich um „seine Leute“ kümmern. Natürlich alles nur leere Worte. Denn während UID und co. versuchen, den Protest von Menschen, die sich wirklich mit den Folgen von Polizeigewalt beschäftigen, zu verunglimpfen, tun sie nichts weiteres, als zu spalten. Wer Solidarität von Gruppen erwartet, die schweigen, wenn ein Mensch, der kein Türkeistämmiger ist, von der Polizei getötet wird, aber groß reden, wenn es einen Türkeistämmigen trifft, wird bitterlich enttäuscht werden. Reaktionäre Kräfte bieten keine ernsthaften Antworten. Denn diese kann nur lauten, sich, unabhängig von Migrationshintergrund oder nicht, zusammenzuschließen und gemeinsam gegen Polizeigewalt und Rassismus zu kämpfen.

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