Zeynep Arslan
Am 13. April wurden die Kandidatenlisten durch den Obersten Wahlvorstand (YSK) der Türkei angenommen. Es treten insgesamt 26 Parteien für die Parlamentswahlen am 14. Mai an. Doch in was für einer Lage befindet sich das Land insgesamt?
Während über 13 Millionen Menschen in der Erdbebenregion seit Anfang Februar weiterhin um ihre Zukunft und Grundversorgung bangen müssen, wird das gesamte Land mit einer überdurchschnittlichen Inflation geplagt, die gegenwärtig laut Türkischem Statistischem Amt TÜIK bei rund 70 und laut der Forschungsgruppe Inflation (ENAG) bei über 130 Prozent liegt; Straßenreportagen zufolge fühlt sich die Inflation für das normale Volk bei 200 Prozent an.
Über 14 Millionen Arbeiter leben in der Türkei, wovon laut türkischer Sozialversicherungsanstalt SGK über 42 Prozent nur für einen Mindestlohn arbeiten und ihre Familien nicht versorgen können, bei diesen Preisen schon mal gar nicht. Nach dem Krisenmanagementversagen der AKP-Regierung beim Erdbeben, sowie der wirtschaftlichen Extremsituation scheint auch das Spiel mit der Religion nicht mehr durchzugreifen. Der Wunsch nach einer Abwahl der AKP-Regierung ist groß gleichzeitig auch die Sorge darüber, dass Erdoğan die Macht nur schwer aus der Hand geben wird.
Realistische Chance auf Erdoğans Abwahl
Die Wahlprognosen sind sehr ambivalent und mit viel Kritik zu nehmen, doch die Chancen seiner Abwahl sind gegeben. Dem Umfrageinstitut MetroPoll zufolge liegt das „Volksbündnis“ Erdoğans bei 47,8 Prozent, Kılıçdaroğlus „Nationalbündnis“ bei 38,1 Prozent und das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ derzeit bei 13,9 Prozent. (siehe: tr.euronews.com, 17.04.2023) Manche andere Umfragen ergeben spiegelverkehrte oder sehr knapp zueinander stehende Ergebnisse. Allein auf die Parteien heruntergebrochen zeigt ein Großteil der Umfragen die AKP an erster und die CHP an zweiter Stelle, doch auf die Wahlbündnisse umgeschlagen, scheint das Volksbündnis eher immer weiter zurückzufallen.
Währenddessen hat das links-sozialistische „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten gestellt und wird Kılıçdaroğlu gegen Erdoğan unterstützen, dies allein zur Beendigung des mittlerweile 21 Jahre andauernden Ein-Mann-Regimes. Die Oppositionskräfte möchten gleich nach dem ersten Wahldurchgang Erdoğan abgewählt und seine AKP geschwächt wissen. Wie sich die AKP Regierung durch die letzten zwei Dekaden Wahlergebnisse zurecht gebogen hat und welche Szenarien nach einem für Erdoğan unerwünschten Finale erfahrungsgemäß eintreten können, erwecken nach wie vor große Besorgnis, worin die gegenwärtige Ruhe und das Abwarten im Land womöglich begründet liegt.
Neben den drei großen Wahlbündnissen haben sich kleinere Bündnisse, z.B. das Heimat-Bündnis unter der Führung des ehemaligen CHP-Abgeordneten Muharrem İnce gebildet. İnce trat bei den Wahlen 2018 gegen Erdoğan an und erfuhr eine zerschmetternde Niederlage. Danach beendete er seinen Weg mit der CHP und schürt seither einen offenkundig persönlich motivierten Konkurrenzkampf gegen Kılıçdaroğlu, weswegen es manch Spekulationen darüber gibt, ob dieser nicht sogar vom Erdoğan strategisch gegen Kılıçdaroğlu instrumentalisiert wird.
Frauen hoffen auf ihre Freiheit
Positive Resonanzen gibt es für die Kandidaten des Bündnisses für Arbeit und Freiheit. Insbesondere die weiblichen, die aus organisierten Frauenbewegungen kommen, erwecken Hoffnung dafür, Stimme und Kraft im Parlament zu sein. Ihnen entgegen stehen die Mitglieder der radikal-islamistischen HÜDA-PAR und konservativ-islamistischen YRP, die beide das Erdoğan AKP-MHP geführte Volksbündnis unterstützen und somit große Besorgnis über womöglich größere Verschlechterung der Rechte von Frauen und LGBT-Gruppen stärken. Nicht zuletzt erklärte die Frauensprecherin der HÜDA-PAR ihre Frauenpolitik, die z.B. einen getrennten Schulunterricht für Mädchen und Jungen sowie für die Aufhebung aller Gesetze, die den Schutz der Frauen untermauern, plädiert, da diese dem islamischen Familienbild schaden würden. Mit inklusive diesen Frauen sind nur knapp 19 Prozent der Kandidaten des Erdoğan-Lagers weiblich. Während im Nationalbündnis 26,8 Prozent Frauen als Abgeordnete kandidieren, sind im Bündnis für Arbeit und Freiheit mit knapp 40 Prozent der größte Anteil an Frauen für die Wahlen aufgestellt.
Während die Spannungslage in der Türkei weiter auf Hochtouren bleibt und neben einer großen Hoffnung für Veränderung das Gefühl der Unsicherheit nicht locker lässt, weil viele bei einer Fortführung des Ein-Mann-Regimes einen zweiten Iran fürchten, können die wahlberechtigten Türkeistämmigen in Europa ab dem 27. April bis 9. Mai ihre Stimmen abgeben.
„Auslandstürken“ Zünglein an der Waage?
In 75 Staaten und 176 türkischen Vertretungen kann gewählt werden. Spannend ist, dass die Wahlurnen von Mitarbeitern des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (Diyanet), die z.B. in Organisationen, wie die DITIB tätig sind, verantwortet und bewacht werden. Weltweit gibt es über 3 Millionen Türkeistämmige Wahlberechtigte außerhalb der Türkei, wobei sich die größte Gruppe mit 1,4 Millionen in Deutschland befindet. Durch das Zentrum zur Koordination der Wahlen im Ausland (SKM) werden durch die AKP Wahlkampfchefs nominiert, die den Wahlkampf in der Diaspora koordinieren. Trotz offiziellem Wahlverbot in Deutschland und klare Ablehnung des österreichischen Außenministers, Alexander Schallenberg, konnte Erdoğan via dem türkischen Außenminister, Mevlüt Çavuşoğlu, der in den vergangenen Tagen bei Iftar-Fastenbruch-Veranstaltungen von AKP nahen Organisationen wie die UID, in Wien und Stuttgart war, über eine Online-/Telefonverbindung zu seinen potentiellen Wählern sprechen.
2018 schaffte die AKP allein in Österreich 62,5 und in Deutschland 67 Prozent unter den Wahlberechtigten, die zur Wahl gegangen sind. Im Durchschnitt der Türkei lag diese Zahl bei 53 Prozent. Es sind diese Stimmen, die bei einem knappen Rennen entscheidend sein können, weil sie anteilig an die Stimmen der jeweiligen Kommunen zugerechnet werden. Die kurzen Urlaubsaufenthalte in Zeiten, in denen der Euro über 20 TL macht, scheinen unter anderem die AKP-Wähler im Ausland zu motivieren, die AKP zu unterstützen, was Unbehagen und Kritik bei vielen 365 Tage in der Türkei lebenden Menschen auslöst, für die die Hofhudelei der Mitglieder des Ein-Mann-Regimes durch manch europäischer Politiker genauso wenig ansprechend scheint.