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Probleme der Stärkung des Zusammenlebens in Deutschland

Wir befinden uns in einer Phase, in der die ethnische Herkunft, der Glaube und kulturelle Unterschiede zu einer starken Polarisierung innerhalb der Gesellschaft führen. Die Entwicklungen – national wie international-, die Vorurteile oder Ängste verstärken, addiert zu den Problemen, die Migration geschichtlich gesehen immer schon mit sich brachte, führen dazu, dass das Zusammenleben zwischen türkeistämmigen Migranten und der Mehrheitsgesellschaft weiter eingeengt wird und Türkeistämmige sich noch mehr abkapseln. Aber warum werden gerade ethnische, religiöse oder kulturelle Unterschiede zu einem Spaltungsfaktor für Menschen mit gleichen Problemen, ähnlichen Bedürfnissen und einer gemeinsam angestrebten Zukunft? Ist diese gesellschaftliche Abgrenzung nicht verhinderbar oder lediglich eine Phase im Prozess der Zusammenfindung?

TONGUÇ KARAHAN

Fast 57 Jahre sind vergangen seit dem 31. Oktober 1961, als Deutschland und die Türkei das Anwerbeabkommen unterzeichneten. Was mit der Reise von 450 Männern vom Haydarpasa-Bahnhof in Istanbul nach Düsseldorf begann, beeinflusste das Leben und das Schicksal von Millionen Menschen im Lauf der Jahrzehnte. Anfangs kam man nur für eine bestimmte Zeit, wollte sparen und wieder zurück, aber in den 80er und 90er Jahren wurde aus dem „gurbet“ („Ort der Auswanderung“) „die zweite Heimat“. Die Zahl der Türkeistämmigen in Deutschland beträgt mittlerweile fast 3 Millionen, mindestens die Hälfte von diesen hat die deutsche Staatsbürgerschaft und mindestens 1,5 Millionen wurden in Deutschland geboren.

Statistiken können aber lediglich einen oberflächlichen Eindruck vermitteln, die soziale, politische und menschliche Dimension von Migration aber keineswegs wiedergeben. Denn wir befinden uns mitten in einem Prozess und die Änderung des Status` vom „Gast“ zum „Bürger“ hat in Deutschland, wie auch in jeglicher Migrationsgeschichte überall auf der Welt, viele Probleme mit sich gebracht, die teilweise weiterhin noch anhalten.

Auch wenn die Grundlage abhängig von ökonomischen Faktoren und Zwängen ist, bedeutet „Teil der Gesellschaft“ zu werden eine politische, gesamtgesellschaftliche und menschliche – durchaus komplizierte und träge – Entwicklung durchzumachen. Die Migrationsgeschichte der Türkeistämmigen, der größten Migrantengruppe in Deutschland, die bereits schon mehr als ein halbes Jahrhundert andauert, ist der lebende Beweis für diesen anstrengenden und mühseligen Prozess.

Unter-sich-Sein und Polarisierung

Wir können festhalten, dass seit den 60er Jahren einige wichtige Entwicklungen im Leben der türkeistämmigen Migranten stattgefunden haben. Die erste Gastarbeitergeneration hat ihren Platz längst Nachkommen überlassen, die hier geboren wurden. Die benutzte Sprache, der Bildungsstand oder soziale und familiäre Beziehungen usw. haben sich gewandelt. Auch wenn der Großteil der Türkeistämmigen weiterhin aus Arbeitern und Lohnabhängigen besteht, kann man auch einen sozialen Klassenaufstieg beobachten. Jedoch ist es auch Fakt, dass es weiterhin große Probleme bei Kontakten zu der Mehrheitsgesellschaft gibt.

Am Arbeitsplatz, in der Schule, in Stadtteilen oder im Alltag kann man oft ein Unter-sich-Sein, eine Abkapselung, teils sogar eine Abschottung beobachten. Politische oder soziale Entwicklungen im Land, in der Stadt oder sogar im Stadtteil werden oft nur von außen und passiv verfolgt, obwohl die Auswirkungen sich unmittelbar auf das eigene Leben und Befinden auswirken. So kann man leider eine geringe Teilnahme von Türkeistämmigen bei Protesten gegen Rassismus, Wohnungsnot, Gesundheit oder Bildung beobachten, was keinesfalls mit ihrem Anteil an der Gesamtgesellschaft korreliert. Soziale Beziehungen und kulturelle Teilhabe beschränkt sich stark auf „eigene Leute“ und Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft sind sehr schwach ausgeprägt, so dass der Blick auf Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft eher vorurteilsbeladen und voller Sorgen ausfällt oder die Vorurteile stärkt, statt abzubauen.

Selbstverständlich kann man nicht alle Türkeistämmigen über den selben Kamm scheren, aber die oben beschriebenen Tendenzen, die in den letzten Jahren sogar zugenommen haben, darf man nicht außer Acht lassen und muss die wahren Gründe dafür analysieren und Lösungswege finden.

Faktoren, die die Beziehungen beeinflussen

Mit „Beziehungen der Türkeistämmigen mit der Mehrheitsgesellschaft“ ist keine rein „gesellschaftliche“, „kulturelle“ oder „nationale“ Beziehung gemeint, die unabhängig von ihrer sozialen oder Klassenidentität verstanden werden darf. Auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft kann man nicht als homogene Gruppe verstehen, die unabhängig von Klassen- und Standesunterschieden wäre und dementsprechend jede Klasse mit jeder anderen gute Beziehungen führen würde. Auch ein Deutscher aus der Klasse der „Großkapitalisten“ und ein deutscher „Arbeiter“ haben große gesellschaftliche und kulturelle Barrieren, die unabhängig vom Willen der Beteiligten meist nicht überbrückbar sind und zu einer „Parallelgesellschaft“ führen. Diese Barriere oder gesellschaftliche Spaltung ist ein universeller Widerspruch des auf Klassenungleichheit aufgebauten Systems, des Kapitalismus.

1. Ökonomische Dimension

Der Hauptgrund, der die Beziehungen von Migranten und Deutschen am stärksten beeinflusst, ist die wirtschaftliche Stellung in der Gesellschaft. Die wirtschaftliche Situation wirkt sich unmittelbar auch auf die Beziehungen untereinander aus. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt oder die Finanzierung des Lebensunterhalts nicht gewährleistet werden kann, wenn unter Werktätigen die Konkurrenz oder Sicherheitsängste zunehmen, können Migranten schneller zu Sündenböcken erklärt werden. Migranten, die unter normalen Bedingungen nicht wesentlich negativ wahrgenommen wurden, können auf einmal als die „Mutter aller Probleme“ dargestellt werden. Auf der anderen Seite kann bei Migranten das falsche Gefühl zunehmen, dass man aufgrund der ethnischen oder religiösen Herkunft diskriminiert oder ausgegrenzt wird.

2. Politische Dimension

Ein weiterer wichtiger Grund, der die zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen beeinflusst, ist der politische Faktor; Wie ist die Wahrnehmung der Parteien, Regierungen oder Medien über Migranten und welche Eindrücke vermitteln sie? In den 60ern wurden die Gastarbeiter noch mit Musik empfangen, in den Folgejahren, als der Bedarf an Arbeitskräften gedeckt war, versuchte man sie mit Prämien wieder los zu werden und bewusst oder unbewusst wurden viele politische Entscheidungen gefällt, mit deren Folgen man heute noch zu kämpfen hat. Man hat somit die Grundlagen für Probleme von heute schon vor etlichen Jahrzehnten geschaffen und die Keime für Vorurteile bereits damals gesät. Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft waren Migranten ein Problem und gar eine Gefahr. „Die gehören eh` nicht hierher“ war die meist sogar unausgesprochene Wahrnehmung und bei den Migranten wurden Ängste und Vorurteile bekräftigt, da sie das Gefühl bekamen: „Wir sind eh` unerwünscht“.

Parallel dazu betrieben auch türkische Regierungen Anstrengungen, um die Staatsbürger im Ausland weiterhin an die alte Heimat zu binden, ihre Ängste und Vorurteile zu bekräftigen und die Abschottung der Türkeistämmigen zu befeuern. Nicht zuletzt unter Erdogan nahmen diese Anstrengungen stark zu und gipfelten in seinen Aussagen „Assimilation ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit“ oder in der Aufforderung, eine Türkenpartei zu wählen, da Deutschland eine Türkenfeindlichkeit betreibe. Nicht zuletzt die Diskussionen während und nach der WM um Özils Foto mit Erdogan und wie diese von deutschen sowie türkischen Medien angeheizt wurden oder die diplomatischen Krisen zwischen europäischen Ländern und der Türkei, sind aktuelle Beispiele dafür, wie durch verschiedene Botschaften die politische Stimmung polarisiert und die gesellschaftliche Gemütslage kanalisiert werden kann.

3. Ethnische, religiöse und kulturelle Werte

Ethnische, religiöse und kulturelle Werte und Unterschiede spielen bei der Migration vermeintlich die größte Kluft und erschweren das Zusammenkommen. Hierbei spielt die bereits erwähnte nationalistische Politik der beteiligten Länder aber die entscheidende Rolle. Menschen, die die gleichen Arbeitsbedingungen, ähnliche Probleme und vermeintlich das gleiche Schicksal erleiden, werden aufgrund religiöser oder kultureller Unterschiede polarisiert und entfremdet. Statt der gesellschaftlichen Merkmale „Arbeiter“, „Schüler“, „Rentner“ usw. rückten Religion oder Nationalität in den Vordergrund. Auf einmal wurde mehr über die religiöse oder ethnische Zugehörigkeit eines Täters bei einem Verbrechen diskutiert, statt über die Tat selber. „So sind Moslems“ oder „Deutsche sind Rassisten“ wurden gesellschaftlich konsensfähig. Die Eigendynamik, die solche Aussagen dann entwickeln können, haben Dimensionen erreicht, die vorher nicht denkbar waren.

Genau das ist migrationsgeschichtlich die negative Kehrseite der Migration. Sowohl die Migranten, als auch die Mehrheitsgesellschaft versuchen, auf der einen Seite ihre Gepflogenheiten und Werte zu schützen und diese, soweit es geht, zu leben und auf der anderen Seite auf einander zuzugehen, sich kennenzulernen und gemeinsame Werte aufzubauen. Diese „Verschmelzung“ ist unabhängig vom Willen der Einzelnen und kann mehrere Generationen bis zur vollständigen Entfaltung dauern. Und die fast 60-jährige Migrationsgeschichte der Türkeistämmigen zeigt unendlich viele Beispiele, wie diese Verschmelzung bereits beginnt oder vollzogen wird. Das Problem der Integration heute ist nicht, dass es nicht zu einer Verschmelzung kommt, sondern dass diese sehr langsam und „schmerzhaft“ voranschreitet. Zwischen dem Leben und dem Alltag der ersten Generation oder der dritten oder mittlerweile vierten Generation liegen Welten und die Erneuerungen im Verhalten, der Gefühle und der Werte der jüngeren Generationen deutet auf viele Merkmale, die aus der Verschmelzung mit der Mehrheitsgesellschaft resultieren. Wenn auch teilweise nur in Ansätzen oder noch nicht vollständig ausgereift.

Dass die Verschmelzung langsamer von statten geht, als man sich das wünscht, liegt wahrscheinlich überwiegend an der rasanten Entwicklung der Medien und Kommunikationsmittel. Türkeistämmige hatten bis in die 90er hinein viele „deutschländische“ Gewohnheiten angenommen, jedoch als türkische TV-Programme und später das Internet und soziale Medien sich rasant entwickelten (und natürlich müssen auch die weiter oben erwähnten sozio-ökonomischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen mitberücksichtigt werden), nahmen Entwicklungen in der Türkei mehr Platz im Alltag ein, als früher. Von Sport und Musik bis hin zu Klatsch und Tratsch oder Serien fand nun vieles mitten in deutschen Wohnzimmern statt. Das Sich-Ausgegrenzt-Fühlen verstärkte sich aufgrund der deutschen sowie türkischen Realpolitik.

Eine weitere Rolle im Alltag der Türkeistämmigen spielen Vereine und religiöse oder politische Verbände. Von links bis rechts, viele Vereine und Verbände waren Türkei-zentriert und beschäftigten sich mit der Politik und den Entwicklungen in der Türkei. Die Aktivitäten bezogen sich auf ihre „türkischen“, „kurdischen“, „muslimischen“ oder „alevitischen“ Wurzeln und führten, unabhängig vom Willen der Akteure, zu einer Abkapselung innerhalb der Gemeinschaft und zu einer Distanzierung zu der Mehrheitsgesellschaft, im Idealfall zu einer „symbolischen Annäherung“.

Organisationen, wie die DIDF, die sich für die Integration in die deutsche Gesellschaft einsetzten und eine Verschmelzung mit der Arbeiterklasse anstreben, konnten die Bedürfnisse der türkeistämmigen Werktätigen nicht stillen, ihre Positionen nicht in der Gesellschaft verankern oder kamen gegen die spaltenden Praktiken der deutschen und türkischen Politik und Medien nicht an. Dabei braucht die Gesellschaft genau das: Arbeiter und Werktätige einander näher zu bringen, unabhängig von Religion oder Kultur, sie für ihre gemeinsamen Forderungen und Interessen zu stärken und gemeinsame Schritte zu unternehmen für eine gerechte und gleichberechtigte Gesellschaft. Um diese Ziele zu erreichen, muss man eine konsequente und unermüdliche Sisyphusarbeit leisten.


Die Verantwortung, das Zusammenleben zu stärken

Alle oben erwähnten Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei den Beziehungen der Türkeistämmigen zur Mehrheitsgesellschaft. Und diese sind nicht starr und unveränderbar, im Gegenteil gibt es auch Situationen und Bedingungen, die eine Verschmelzung befördern. Genauso, wie Rassisten und Nationalisten auf beiden Seiten die Spaltung vorantreiben möchten, gibt es gesamtgesellschaftliche Bemühungen des Zusammenkommens. Diese Grundlage, auf der sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen lässt, muss genutzt werden, um das Verschmelzen voranzutreiben. Und hierbei kommt Organisationen, wie der DIDF, aber auch Menschen mit Vorbildfunktionen (Künstlern, Sportlern, Gewerkschaftern usw.) eine besondere Verantwortung zu. Selbstverständlich muss man rassistische und spalterische Tendenzen aufgrund von Religion oder Ethnie kritisieren, aber solange keine wirklichen Schritte in Schulen, am Arbeitsplatz oder im Stadtteil unternommen werden, die Hürden, die vor der Verschmelzung stehen, zu überwinden, wird jegliche Mühe nur ein Tropfen auf dem heißen Stein bleiben. Wenn man sich die Entwicklungen in der Welt und speziell in Deutschland anguckt, wird man leicht feststellen, dass diese Arbeit keine leichte Aufgabe ist. Aber genau deswegen ist sie notwendiger denn je.

Organisationen und Menschen, die sich für das Zusammenkommen der Werktätigen unabhängig von kulturellen und religiösen Unterschieden einsetzen, müssen dieser Verantwortung gerecht werden. Dringend muss auf folgende Fragen eine Antwort gegeben werden: Wie können wir die Partizipation von Migranten in der Gesellschaft und in gesellschaftlichen Entwicklungen und Diskussionen voranbringen und die Aktivitäten, die wir veranstalten zu einer Möglichkeit ausbauen, damit Migranten sich auch daran beteiligen können?

Sicherlich werden viele Mühen, die man sich gibt, nicht ausreichen, um diese auf beiden Seiten tief verwurzelte Spaltung zu beseitigen. Aber die Verschmelzung der türkeistämmigen Werktätigen mit ihren Kollegen aus anderen Nationen kann nur dann stattfinden, wenn Möglichkeiten geschaffen werden, dass man sich einander annähert, sich kennenlernt und erfährt, dass die Kraft aus der Gemeinsamkeit erwächst. Gegen den erstarkenden Rechtspopulismus müssen Türkeistämmige mit deutschen antifaschistischen und antirassistischen Kräften zusammenkommen und für ein lebenswertes Deutschland kämpfen. Wenn diese Idee in den Köpfen der Türkeistämmigen keimt, kann die Verschmelzung von keiner Kraft mehr aufgehalten werden!

Übersetzung: O. Demirel

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