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Türkei: Der Geist vom „12. September 1980“

Bei jeder Gelegenheit erklärt der türkische Präsident Tayyip Erdoğan, der Militärputsch vom 12. September 1980 sei „ein schwarzer Fleck in der Geschichte unserer Demokratie“. Symbolisch wählte er 2010 den 12. September als Tag des Referendums, um „eine grundlegende Verfassungsänderung“ umzusetzen. Damals waren zumindest die Gülenisten noch seine Verbündeten, mit denen er das Ziel teilte, die Justiz vollständig von der Armee und den Putschisten vom 12. September 1980 zu „befreien“ und selbst zu übernehmen. Heutzutage benutzt er die Rhetorik um den 12. September dazu, seine Verfassung des „Ein-Mann-Regimes“ als „zivile, freiheitliche Verfassung und als den Gipfel der Demokratie“ zu präsentieren.

Devlet Bahçeli und seine ultranationalistische MHP, der kleine Partner der Regierung, stehen aber nicht geschlossen hinter Erdoğan, wenn es um den 12. September 1980 geht. In seinen Reden verurteilt Bahçeli den Putsch. Betrachtet man jedoch den Prozess, der zum Putsch vom 12. September führte und die Ziele dieses Putsches, so zeigt sich eine völlig andere Realität, in der die MHP eine besondere Rolle spielte.

Alparslan Türkeş, der Gründer der MHP und ihr ideologischer Vordenker und „Oberster Führer“ bis zu seinem Tod 1997, war von den USA/NATO in spezieller Kriegsführung (Konterguerilla) ausgebildet worden. Diese wurde bei zahlreichen Provokationen, Massakern und Morden eingesetzt, um den Kampf der Arbeiterklasse und des Volkes zu unterdrücken, der vor allem in der zweiten Hälfte der 70er Jahre im Aufwind war. Vom Bahçelievler-Massaker 1978, an dem faschistische Auftragskiller, wie Abdullah Çatlı und Haluk Kırcı beteiligt waren, bis hin zum Maraş-Massaker im Dezember 1978 haben wir es mit einer ziemlich umfangreichen Verbrecherkartei zu tun, an denen Türkeş  mindestens im Hintergrund beteiligt war oder den Befehl gab.

In dieser Zeit spielte die MHP eine besondere Rolle bei den Attentaten der selbsternannten „Idealisten“ gegen Revolutionäre und Provokationen gegen alevitische und kurdische Bevölkerungsteile. Auch in Betrieben trieb sie sich mit dem Ziel um, den Klassenkampf zu untergraben und die nationalistische oder religiöse Spaltung unter den Arbeitern, vor allem in Großbetrieben, zu verbreiten. Insbesondere ist bekannt, dass die Bosse der MESS (Türkischer Metall-Industriellenverband) die MHP finanziell unterstützten und politische Beziehungen zu Türkeş aufbauten, um die Arbeiterbewegung zu unterdrücken.

Auch Necip Fazıl (Kısakürek), den Erdoğan als seinen ideologischen Führer betrachtet und dessen Ansichten er bei jeder Gelegenheit vertritt, unterstützte damals die MHP, da er sie als „Retter“ ansah. Auch wenn Bahçeli heute den Putsch vom 12. September 1980 verurteilt, führte die MHP damals die Welle der Provokationen und des Terrorismus mit dem konkreten Ziel durch, den Weg für einen Militärputsch zu ebnen. Denn die MHP erwartete, dass die Armee nach der Machtergreifung eine faschistische Ordnung genau nach ihren Vorstellungen errichten und die „Kommunisten ein für alle Mal ausmerzen“ würde. Der Staatsstreich vom 12. September wurde jedoch nicht durchgeführt, weil die MHP ihn wollte. Die MHP war nur ein Werkzeug, das vom Kapital gebraucht wurde, um den Boden für den Putsch zu bereiten.

Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre wurde im kapitalistischen Westen unter der Führung der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher und des US-Präsidenten Ronald Reagan ein neoliberaler Transformationsprozess eingeleitet und die Beschlüsse wurden am 24. Januar 1980 verkündet, um die Türkei diesem Prozess anzuschließen. Die erste Bedingung für die Umsetzung dieses neoliberalen Transformationsprogramms des türkischen Kapitals war die Zerschlagung der Arbeiterklasse und des revolutionären Kampfes und der Organisation des Volkes. Genau zu diesem Zweck wurde der Militärputsch durchgeführt, von dem der damalige Leiter der Türkei-Abteilung der CIA, Paul Henze, sagte: „Unsere Jungs haben es geschafft“. Nach dem Putsch wurde eine Welle des Terrors gegen revolutionäre und sozialistische Organisationen, die in der Arbeiterklasse und im Volk verwurzelt waren, entfesselt, und auch das kurdische Volk, das für seine nationalen Rechte kämpfte, wurde brutal unterdrückt.

Obwohl die MHP vor dem Putsch ihre „Pflicht“ erfüllte, blieb sie nach dem Putsch nicht von einer unerwarteten Behandlung verschont. Die Armee, die die Macht ergriff, um das Programm des Kapitals umzusetzen, nahm zunächst die Linken ins Visier aber danach folgten MHP-Mitglieder, um den Eindruck zu erwecken, dass der Putsch den „Bruderzwist zwischen Kurden und Türken“ und die „Grabenkämpfe zwischen Rechts-Links“ zu beenden gedenke. Agah Oktay Güner, eine der damaligen führenden Persönlichkeiten der MHP, drückte in seiner Verteidigung vor Gericht die Enttäuschung der MHP darüber aus, „an der Macht, aber im Gefängnis“ zu sein.

Der Putsch vom 12. September basierte auf einer türkisch-islamistischen ideologischen Grundlage und Fethullah Gülen, der später Erdoğans Partner und noch später sein „Erzfeind“ an der Macht werden sollte, begrüßte diesen Putsch damals genauso sehr, wie die Nationalisten der MHP.

Turgut Özal, der Urheber der Beschlüsse vom 24. Januar 1980, setzte bei den Wahlen 1983 als Ministerpräsident das neoliberale Transformationsprogramm endgültig um, immer hinter sich das Militär wissend und in dieser Zeit begannen die islamistischen Kapitalkreise in Zusammenarbeit mit dem arabischen Golfkapital an Macht zu gewinnen. Özal war aber nie so erfolgreich, weil er immer wieder an seine Grenzen stieß und die Kämpfe verschiedener Fraktionen des türkischen Kapitals und die Interessen der USA berücksichtigen musste.

Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Ostblocks verfolgte der US-Imperialismus eine Politik zur Gestaltung des Nahen Ostens und Nordafrikas mit „gemäßigten islamistischen“ Kräften („neoliberale Islamisten im Einklang mit den westlichen Imperialisten“). Die Anschläge vom 11. September 2001, hinter deren Durchführung noch viele offene Fragezeichen stehen, dienten als Katalysator für dieses Transformationsprogramm (das Projekt „Greater Middle East“ von George W. Bush jr.).

Genau zu dieser Zeit, als Fuller, der Leiter des CIA-Nahost Büros, erklärte, dass die Türkei zum Schlüssel dieses Projekts werden könnte, verließen Erdoğan und seine Freunde Erbakans konservative Wohlfahrts-Partei und gründeten die gemäßigte, wirtschaftsliberale AKP, die erst im Laufe der Zeit ihr islamistisches und autokratisches Gesicht zeigte, als Erdoğan sich seiner Konkurrenten entledigte.

Was Özal nicht bewerkstelligen konnte, wurde unter der AKP-Regierung Stück für Stück umgesetzt. Beispiel Privatisierung: 62,7 Milliarden Dollar der 70,8 Milliarden Dollar an Umsätzen durch Privatisierungen seit 1985 wurden erst nach 2001 durch die AKP-Regierung durchgesetzt! Keine Regierung war so rücksichtslos wie die AKP-Regierung, was die Flexibilisierung und Prekarisierung des Arbeitslebens, die Vergabe von Unteraufträgen, die Einführung der Leiharbeit, das Verbot von Streiks und Gewerkschaften und die Tatsache, dass die Morde an Arbeitern als „Schicksal“ bezeichnet wurden, beweist.

Das „Präsidialsystem“, von dem Özal nur träumen konnte, wurde in Form eines „Ein-Mann-Regimes“ mit der Partnerschaft von AKP und MHP und nach einem höchst fragwürdigen Referendum in die Praxis umgesetzt.

Wie sehr Erdoğan und Bahçeli den 1980-Putsch auch zu verurteilen scheinen, sind sie in Wirklichkeit die entschlossensten Umsetzer der Idee (MHP) und des Programms (AKP) des Putsches an der Macht. Wenn sie also sagen, dass die Verfassung vom 12. September überholt sei, zielen sie in Wirklichkeit darauf ab, diese reaktionäre Verfassung mit dem Ein-Mann-Regime und den aktuellen Zielen der reaktionärsten Teile des Monopolkapitals kompatibel zu machen. Der Geist und der Körper des Putsches vom 12. September 1980 leben in dieser Regierung weiter.

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