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Wenn Kinder zu Täter:innen werden

Dirim Su Derventli

NRW, Freudenberg. Makaber klingt der Name einer Kleinstadt an der Grenze zu Rheinland-Pfalz, die durch den Mord an einer Zwölfjährigen deutschlandweit bekannt wurde. Das erschütternde an dem Fall ist nämlich das Alter der zwei Beschuldigten, denn diese sind ebenfalls Kinder, erst zwölf und dreizehn Jahre alt.

Als die zwölfjährige Luise am 11. März 2023 nach der Schule auf dem Nachhauseweg verschwand, meldeten die Eltern des Mädchens dieses vermisst. Nach einer großangelegten Vermisstenfahndung wurde die Leiche des Kindes einen Tag später durch einen Diensthundeführer in einer Böschung entlang eines Waldradweges gefunden. Laut Staatsanwaltschaft erlag das Kind an den Wunden durch die hinzugefügten 31 Messerstiche. Zwei Mitschülerinnen, die unter Verdacht gerieten, gestanden die Tat und wurden vom Jugendamt in Obhut genommen. So viel ist zur Tat bislang bekannt. Der Aufschrei ist groß, die Fragen stapeln sich: Wie konnte es so weit kommen? Warum töten Kinder andere Kinder? Hat das System versagt? Wie zeitgemäß die sogenannte Schuldunfähigkeit von Kindern sei, ist eine weitere Frage, die sich vor allem durch die Sozialen Medien treibt.

Kindeswohl, Schuldunfähigkeit und Strafmündigkeit

Kinder sind laut deutschem Recht alle jungen Menschen bis zum 14. Lebensjahr und unterliegen dem besonderen Schutz der Gesellschaft. Im Zusammenhang dieses besonderen Schutzbedarfs lässt sich das (Kinder-)Recht auf eine individuelle, personale und soziale Entwicklung und damit auf das Recht zu wachsen, zu lernen und zu gedeihen, ihre Persönlichkeit zu entfalten und sich damit zu emotional stabilen, eigenständigen, einfühlsamen und sozial verantwortlichen Persönlichkeiten zu entwickeln, ableiten. Zusammenfassen kann man diesen Grundsatz als Kindeswohl.

Unter familienrechtspsychologischen Aspekten definiert, bedeutet Kindeswohl die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes günstige Relation zwischen der Bedürfnislage und den Lebensbedingungen. Dabei müssen die sozialen und altersgemäßen Durchschnittserwartungen an körperliche und psychische Entwicklung erfüllt werden. Wissenschaftlich gibt es laut aktueller Datenlage keine Evidenz darüber, dass die körperliche und psychische Entwicklung vor dem 14. Lebensjahr bereits abgeschlossen ist. Neurologen sind sich weitgehend einig, dass erst mit 25 Jahren die Grundstruktur des Gehirns entwickelt ist. Etwa die Hälfte dieser Grundstruktur sei erblich festgelegt, die restlichen 50 Prozent tragen Erlebtes, Erfahrenes und Gelerntes bei.

Somit ist davon auszugehen, dass Kinder sich in einem Entwicklungsprozess befinden und nicht vollkommen zurechnungsfähig, sondern erst zu mündigen und verantwortungsbewussten Menschen zu erziehen sind. In Kinderschutzsachen ist diese Annahme überaus bedeutend. So ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Kinder nicht dazu in der Lage sind, ihr Einvernehmen zu sexuellen Handlungen zu äußern. Daher sind jegliche sexuelle Handlungen mit Minderjährigen unter 14 Jahren immer als sexueller Missbrauch zu definieren. Strafmündig sind hier nur die erwachsenen Täter:innen, die ihre Handlungen mit vollem Bewusstsein und Wissen über Folgen ausüben. Doch was ist wenn Kinder selbst zu Täter:innen werden?

Ein alltagsnahes Beispiel wäre ein Kind, dass Ladendiebstahl begeht. Hier ist davon auszugehen, dass es der kindlichen Logik daran fehlt, das begangene Unrecht einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Hieraus schließt sich die Konsequenz der Schuldunfähigkeit. Kinder sind damit ausnahmslos schuldunfähig und werden nicht bestraft, wenn sie eine Straftat begehen. Wer als strafmündige Person allerdings Kinder zu Straftaten anstiftet oder beim Tathergang unterstützt, kann bestraft werden. Etwas anders sieht es bei Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr aus. Jugendliche bis zur Volljährigkeit (in Ausnahmefällen sogar bis zum 21. Lebensjahr) gelten zwar vor dem Gesetz als strafmündig, allerdings werden ihre strafrechtlich relevanten Handlungen nach Jugendstrafrecht geahndet. Dabei wird zwischen der Entwicklung des jungen Menschen und der Lebenserfahrung, sowie Art, Umständen und Beweggründen der Tat abgewogen. Im Zentrum des Jugendstrafrechts steht der Erziehungsgedanke. Während im „normalen“ Strafrecht für Erwachsene Sanktionen zwischen Geld- und Haftstrafen variieren, sieht das Jugendstrafrecht ein eigenständiges Sanktionssystem vor. Dieses beinhaltet Erziehungsmaßregeln (Erteilung von Weisungen und Anordnung von Hilfen zur Erziehung) und Zuchtmittel (Verwarnung, Auflage und Jugendarrest). Heranwachsenden, die einen Mord begehen, kann nach Jugendstrafrecht eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren verhängt werden.

Der Fall Freudenberg

Die Täterinnen aus Freudenberg sind per Gesetz also schuldunfähig und damit nicht strafmündig. Sie werden für den begangenen Mord daher nicht angeklagt und müssen auch nicht ins Gefängnis. Das beruht allerdings auf der Grundlage des Verständnisses des Kindeswohls und nicht auf der Bagatellisierung eines Mordes. Das ist der wesentliche Unterschied, der zu beachten gilt. Dass sich in der Kleinstadt eine derartige Katastrophe abgespielt hat, von der man es kaum wagt, sie auszusprechen, ist nicht zu leugnen.

Straffreiheit im Sinne des Strafgesetzes bedeutet aber nicht, dass es keine Konsequenzen für die Tat gibt. Familiengerichte können gegenüber den Eltern der Kinder zu unterschiedlichen Mitteln greifen. Es kann eine Anordnung erfolgen, dass die die Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch genommen werden muss, zum Beispiel durch die Entziehung des Sorgerechts. Auch können die Kinder in einer Übergangseinrichtung wie einer Inobhutnahmestelle oder einer Kinder- und Jugendpsychiatrie (vorrübergehend) untergebracht werden. Aber auch hier ist immer das Kindeswohl zu beachten.

Die Täterinnen aus Freudenberg wurden bereits nach dem Geständnis nach Angaben der Staatsanwaltschaft aus der Obhut ihrer Eltern genommen und fremduntergebracht. Wozu der Fall nicht führen darf, ist dass jahrelang erkämpfte Kinderrechte ihre Gültigkeit verlieren. Wozu der Fall führen muss, ist die lückenlose Aufklärung und die aufrichtige Aufarbeitung, um zukünftig Taten wie diese gänzlich vorzubeugen.

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