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„Wir brauchen eine solidarische Migrationspolitik“

Yücel Özdemir

Özlem Alev Demirel, Europaabgeordnete der LINKEN und stellvertretende Vorsitzende der EP-Delegation für die Beziehungen zur Türkei und Michel Brandt, Obmann der Fraktion DIE LINKE im Ausschuss für Menschenrechte des Deutschen Bundestags, fuhren ins griechisch-türkisches Grenzgebiet, um auf die dramatische Situation der geflüchteten Menschen und die massive Missachtung der Menschenrechte aufmerksam zu machen. Wir haben mit Frau Demirel über Ihre Einschätzung der Lage gesprochen.

Wie ist die Lage an der griechisch-türkischen Grenze?

Die Lage ist verheerend. Menschen sind geflüchtet und können nicht mehr in ihrer Heimat leben. Man hat gesehen, dass insbesondere auf der türkischen Seite, wo wir uns überwiegend aufgehalten haben, viele erschöpfte Menschen waren. Wir sahen viele Busse mit Geflüchteten. Wir konnten sehen, dass da ein dreckiges Spiel gespielt wird und zwar von beiden Seiten; sowohl von der AKP-Administration unter Präsident Erdogan, der die Geflüchteten als Druckmasse benutzen möchte, um seine Politik durchzusetzen und offene Unterstützung für seinen Krieg in Syrien zu bekommen, als auch von Seiten der Europäischen Union, die mit allen Mitteln versucht, diese Menschen rauszuhalten aus der Festung Europa. Ich fand das im Grunde eine offene Bankrotterklärung für eine Politik, die auf Papier auf das Wohl der Menschen ausgerichtet sein möchte.

Erdogan behauptet, dass die Türkei ungefähr 4 Millionen Geflüchtete aufgenommen habe und die Lasten nicht alleine tragen könne. Wie glaubwürdig ist das?

Der Deal, den die EU mit der Türkei im Jahre 2016 abgeschlossen hat, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wir haben es von Anfang an kritisiert, denn die EU hat versucht, sich ein Freifahrtschein zu erkaufen, indem sie versucht hat, Erdogan als Wächter über die Geflüchteten zu setzen, statt den Bestimmungen der Genfer Konvention nachzukommen und den Schutzsuchenden die Möglichkeit zu gewähren, dass sie in der Europäischen Union in Sicherheit leben können. Dazu muss man sagen, dass es viele verschiedene Mächte waren, vorneweg viele Mitglieder der EU, die USA, verschiedene NATO-Staaten und auch die Türkei, die Syrien zu einem Kriegsschauplatz umgewandelt haben und man muss sagen, wer Bomben in alle Welt schickt, wer Waffen und Munition verkauft, der muss auch die Verantwortung übernehmen für Menschen, die entwurzelt werden und in ihrer Heimat nicht mehr (über-)leben können. Man hätte von Anfang an keinen Deal mit Präsident Erdogan machen dürfen, man hätte von Anfang an eine solidarische Migrationspolitik in der Europäischen Union verfolgen sollen. Das hat man nicht gemacht. Stattdessen hat man Herrn Erdogan als Wächter auf der einen Seite eingesetzt und auf der anderen Seite die Mitgliedsstaaten, die an den europäischen Außengrenzen sind, alleine gelassen. Griechenland ist überfordert mit der Herausforderung und es kann nicht sein, dass Deutschland und die anderen EU-Staaten sich so aus der Affäre ziehen.

Erdogan hat 2015 die gleiche Politik verfolgt wie jetzt. Er öffnete damals die Grenzen und viele Geflüchtete konnten über Griechenland nach Europa kommen. Kann man sagen, dass in diesen 5 Jahren Europa nun wirklich eine Festung geworden ist?

Die EU hat seit ihrer Gründung von Anfang an schon die Politik verfolgt, dass man unter den Mitgliedsstaaten nach innen eine Bewegungsfreiheit verfolgt und nach außen hin umso mehr eine Festung wird und die Außengrenzen abschottet. Zum Teil wurde hier die Frontex aufgestockt und eine Militarisierung an den Außengrenzen vorangetrieben und diese Politik haben wir auch mit dem Deal mit der Türkei gesehen. Es ist tatsächlich auch deshalb inakzeptabel, weil viele Menschen wirklich glauben, dass die EU für humanistische und progressive Werte steht. Genau hier sieht man, sie tut es mitnichten. Im Gegenteil, alle Staaten machen ihre Grenzen dicht. Die Leidtragenden sind die Menschen. Ich habe an der türkisch-griechischen Grenze Familien, Kinder, erschöpfte Menschen gesehen. Es ist bitter und traurig was man dort begegnet und dort geht zur Zeit ein bisschen Menschlichkeit von uns allen verloren.

Bundesinnenminister Seehofer hat erklärt, wir können die Kinder und kranke Menschen holen. Ein Antrag der Grünen, 5000 Kinder nach Deutschland zu holen, wurde jedoch abgelehnt.

Denselben Antrag hatte zuvor auch die Linke gestellt, der auch abgelehnt wurde. Das ist inakzeptabel und unmenschlich. Wie gesagt, gibt es auch die Verantwortung gegenüber Griechenland und gegenüber diesen Menschen. Eigentlich dürften wir nicht darüber sprechen, nur Kinder aufzunehmen, sondern müssten darüber sprechen, eine solidarische Migrationspolitik zu machen, auf der einen Seite die Grenzen für Schutzsuchende zu öffnen und auf der anderen Seite die Fluchtursachen ernsthaft zu bekämpfen. Beides gehört zusammen. Aber dass man nicht mal gewillt ist, Kinder aufzunehmen, ist natürlich selbstredend auch eine Bankrotterklärung. Deutschland hat schon länger zugesagt, Abhilfe zu schaffen und Griechenland zu unterstützen aber seit Monaten passiert nichts. Die griechischen Lager sind überfüllt und das kann so nicht weitergehen.

Die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen erklärte, dass die griechischen Grenzen nicht nur Griechenland gehören, sondern Europa. Kann man nun sagen, dass sich die EU über dieses Thema einig ist, keine Flüchtlinge in die EU zu lassen?

Ja, die EU ist sich einig und viele Menschen in der EU sehen natürlich, dass Präsident Erdogan ein dreckiges Spiel spielt. Das Problem ist nur, dass nicht aus den Augen verloren gehen darf, dass die EU eine Hauptschuld hat an dieser Situation, weil die EU zum Einen es seit Jahren versäumt hat, ein Migrations- und Asylsystem zu schaffen, was auf Menschlichkeit und Humanität aufbaut und stattdessen die Anreinerstaaten alleine gelassen hat. Zum anderen muss klar sein, dass europäische Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland, an die Türkei Waffen verkaufen, mit denen die Türkei in Syrien einen direkten Krieg führt. Somit trägt man auch die Verantwortung für die Fluchtursachen und das muss klar sein. Es braucht einen Aufschrei aus der Bevölkerung gegen diese entmenschlichte Politik, denn Menschenrechte werden mit den Füßen getreten und klar ist: Menschenrechte müssen für alle Menschen gelten, weltweit und an jedem Ort.

Was meinen Sie mit „solidarischer Migrationspolitik“?

Eine solidarische Migrationspolitik heißt erst einmal, festzustellen, dass die Dublin-Verordnungen gescheitert sind. Wir haben gesehen, dass die Staaten an den EU-Außengrenzen überdurchschnittlich stärker belastet wurden, während Binnenstaaten wenig Belastung bekamen. Das ist ein Problem und muss sich ändern. Man darf Grenzstaaten nicht mit diesem Problem alleine lassen. Das zweite ist, dass man natürlich solidarisch sein muss mit den Geflüchteten. Was wir aber erleben, ist, dass den Geflüchteten mit Gewalt begegnet wird, um sie aus der EU herauszuhalten. Das ist inakzeptabel und widerspricht den Genfer Konventionen, denn jeder Mensch hat einen Anspruch darauf, ein geordnetes Asylverfahren zu bekommen. Wenn man keine legalen Fluchtwege ermöglicht, dann können Menschen nur „illegal“ über die Grenzen kommen. Und da Griechenland gerade das Asylrecht für einen Monat aufgehoben hat, wird internationales Recht missachtet und das kann fatale Folgen haben auf Demokratie und Menschlichkeit.

Welche Rolle spielt den Deutschland bei dieser Politik der EU?

Deutschland gehört zu den mächtigsten Staaten und bestimmt sehr viel in der EU, auch die Flüchtlingspolitik. Auch der Deal mit Erdogan wurde von Merkel eingefädelt, damals sogar auf Kosten der türkischen Opposition, wo sie kurz vor türkischen Wahlen mit Erdogan posierte und Wahlkampfhilfe leistete. Klar ist aber auch, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland nicht zusehen möchte, dass Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wenn man Menschen hier aufnehmen möchte, darf man die Kommunen und Städte nicht im Stich lassen. Es gibt viele Gemeinden und Kommunen, die erklärten, dass sie bereit sind, Menschen auszunehmen. Deutschland kann und muss Geflüchtete aufnehmen. Und Deutschland kann und muss aufhören, Waffen an Kriegsparteien auszuliefern.

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