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Wir müssen unsere Stimmen erheben

Wieland Hoban lebt in Frankfurt und ist von Beruf Komponist und Übersetzer. Er ist der Vorsitzende der „Jüdische Stimme“, einer Organisation, die gerade mit ihrer Kritik an Israel auffällt. Wir haben Wieland nach der aktuellen Situation in Israel und die Auswirkungen des Krieges in Deutschland befragt.

Yusuf As

Die Jüdische Stimme ist gerade auch die Stimme der Menschen in Gaza. Klingt etwas widersprüchlich, wenn man sich den aktuellen Diskurs in Deutschland anguckt. Woran liegt das?

In Deutschland wird der Eindruck vermittelt, dass Solidarität mit Palästina sich immer gegen jüdische Menschen richtet. Es werden Ängste vor gefährlichen Muslimen und Arabern geschürt, deren Demonstrationen und Kundgebungen verhindert werden müssten, weil sie Judenhass verbreiten würden. Das ist eine schwerwiegende Verzerrung der Wahrheit, die zu einem Generalverdacht gegenüber diesen Bevölkerungsgruppen und einer häufigen Verteufelung dieser Solidaritätsveranstaltungen führt. Wir wollen die Botschaft senden, dass Solidarität mit palästinensischem Leid – das seit 75 Jahren besteht, nicht erst seit drei Wochen – nichts mit Judenhass zu tun hat, sondern mit einem Eintreten für Menschenrechte und dass jüdische Personen diese Position genauso vertreten können, wie palästinensische oder weiße Deutsche.

Andernorts verfolgen wir große Proteste gegen die israelischen Angriffe, auch von jüdischen Menschen. Deutschland hingegen erklärte „uneingeschränkte Solidarität“ mit Israel. Warum ist das gefährlich?

Herzulande wird in der Politik und den Medien der Grundsatz vertreten, dass Deutschland wegen der Holocaust-Schuld, aufgrund der Ermordung von 6 Millionen europäischen Juden, die unbedingte Unterstützung Israels aussprechen müsse – Angela Merkel hat den Begriff der „deutschen Staatsraison“ eingeführt. Dies führt aber nicht nur zu einer Unterstützung von Kriegsverbrechen, sondern verstärkt auch die Gleichsetzung von Israel, das sich als „jüdischer Staat“ ausgibt und jüdischen Menschen, unter denen es verschiedene Meinungen zu Israel gibt. Und das kann auch Ressentiments gegen Juden fördern, wenn sie als Vertreter der israelischen Politik betrachtet werden. Ein Mittel gegen die Art von Antisemitismus, die zu Angriffen auf Synagogen oder sichtbar jüdische Personen führt, wäre Aufklärung in dieser Sache. Viele Juden auf der Welt identifizieren sich nicht mit Israel und sagen deutlich: Dieser Staat handelt nicht in unserem Namen.

Durch eure Solidarität mit den Menschen im Gaza werdet sogar ihr als „Antisemiten“ bezeichnet. Das ist irgendwie paradox. Wie geht es euch damit?

Wenn man das zum ersten Mal hört, ist es natürlich verletzend und verwirrend. Wenn ausgerechnet Deutsche uns so beschimpfen, um eine Wiedergutmachung durch proisraelische Positionen zu praktizieren, ist es besonders pervers. Wir verhalten uns nicht so, wie sie es von Juden erwarten, wir passen nicht in ihr Weltbild hinein. Und wenn solche Anfeindungen von jüdischer Seite kommen, ist es einfach traurig, dass sie in unserem Verhalten nicht Menschlichkeit, sondern Hass sehen.

Du gehörst zu den Intellektuellen, die ein Soli Brief mit 99 weiteren verfasst haben die zum Frieden aufrufen. Mit welchen Herausforderungen wart ihr konfrontiert?

Es gab in der Tat Zuspruch und mediales Interesse daran. Es hat auch dazu geführt, dass manche zum ersten Mal auf die Arbeit der Jüdischen Stimme aufmerksam wurden. Es hat auch klar gezeigt, dass es oft mehr Interesse unter Journalisten, als bei der Redaktionsleitung gibt, da manche Interviews letztlich nicht veröffentlicht wurden.

Wie ist eure Zusammenarbeit mit palästinensischen Gruppen?

Für uns ist es sehr wichtig, nicht einfach für Palästinenser zu sprechen, sondern auch gemeinsame Räume zu öffnen und ihre Stimmen zu verstärken. Auch wenn wir viel Ablehnung und Cancelling erfahren, für sie ist es noch schlimmer. Es gibt Gruppen wie „Palästina Spricht“ oder neuerdings auch die Palästina-Kampagne, die eine Mischung aus Personen unterschiedlicher Herkunft ist. Wir arbeiten natürlich auch mit Einzelpersonen, zum Beispiel mit Menschen direkt aus Palästina, die von der Situation dort berichten. Es wäre überhaupt nicht im Sinne der Solidarität, wenn wir nur alleine sprechen würden.

Du verfolgst die Solidaritätsdemos mit Palästina. Macht sich der Antisemitismus breit unter der Bevölkerung?

Nein. Es kann Einzelne geben, die „Juden“ statt Israel verantworlich machen, und man kann nicht alle Teilnehmenden bei einer Demonstration kontrollieren. Das gilt aber nicht für die Bewegung an sich, sonst würden wir uns nicht bei der Beteiligung wohlfühlen. Das Problem ist, dass vieles zu Unrecht als antisemitisch gilt. Es wird zum Beispiel vielerorts behauptet, der Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ sei ein Aufruf zur Judenvernichtung, dabei ist es eine Forderung nach gleichen Rechten für alle Menschen im Gebiet des historischen Palästina. Wenn eine solche Falschdarstellung sich verbreitet und der Slogan bei vielen Demos vorkommt, dann heißt es natürlich schnell, das seien antisemitische Veranstaltungen.

Viele Demos werden wegen vermeintlicher „Volksverhetzung“ verboten. Sind das präventive Maßnahmen oder ein Einschnitt in die Versammlungsfreiheit?

Das sind Beschneidungen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit, wie es sie bei keinem anderen politischen Thema gibt. Es beruht auf der rassistischen Argumentation, dass „emotionalistierte“ Menschen palästinensischer bzw. arabischer Herkunft eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen, was bei rechten Aufmärschen seltsamerweise nicht unterstellt wird. Die Rechten sind so stark, wie lange nicht mehr, die AfD steht seit Monaten bei über 20% und man sieht, wie die vermeintliche Gefahr des Antisemitismus benutzt wird, um Migranten zu verteufeln und Abschiebungen zu fordern. Das Thema jüdischer Sicherheit wird dafür instrumentalisiert, dabei fühle ich mich auf Demos eher von der sehr gewaltbereiten Berliner Polizei stärker bedroht als von den anderen Demonstrierenden. Spaltung von Minderheiten ist fatal angesichts der rechten Gefahr, denn die Faschisten hassen uns alle.

Hast du noch ein Schlusswort?

Es müssen jetzt möglichst viele ihre Stimmen für die Menschen in Palästina erheben, ob in Gaza oder anderswo, denn überall in Palästina gibt es seit Jahrzehnten Leid, das nicht mal ausreichend anerkannt, geschweige denn beendet wird. Viele Menschen sehen das Unrecht, haben aber Angst, sich zu äußern. Deswegen müssen wir zusammenhalten und gemeinsam diese Angst und Ignoranz bekämpfen. Es braucht eine breite Bewegung, wie sie schon in manchen Ländern zu beobachten ist, um etwas zu verändern.

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