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„Wir werden den Opfern eine Stimme und Tätern ein Gesicht geben!“

Yücel Özdemir

Jürgen Grässlin ist Pädagoge, Publizist und Friedensaktivist. Er ist seit den 1990er Jahren einer der bekanntesten deutschen Rüstungsgegner und veröffentlichte zahlreiche Sachbücher zur Rüstungsindustrie und Bundeswehr. Er ist Sprecher der aktuellen Kampagne „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) sowie der Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD), Kritischen AktionärInnen Heckler & Koch (KA H&K) und Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.). Wir sprachen mit ihm über die deutschen Rüstungsexporte in die Türkei und über die Rolle der deutschen Rüstungskonzerne bei Menschenrechtsverletzungen.

Wie bewerten Sie die neue Waffenexportrichtlinie der angehenden neuen Bundesregierung?

Die Bundesregierung bestehend aus CDU/CSU und SPD hat am 7. Februar ihren Koalitionsvertrag veröffentlicht. Wenn diese Regierung in der Konstellation zustande kommt -denn das Votum der SPD-Mitglieder steht ja noch aus- dann fürchten wir als Initiative „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“ das schlimmste. Wir sind eine Organisation, eine Kampagne von mehr als 140 Organisationen der Friedens-, Menschenrechts und Dritte-Welt-Organisationen, auch der Kirchen und Gewerkschaften und wir analysierten diesen Koalitionsvertrag und stellten fest, dass diese darin gemachten Vorgaben schon mal Falsche sind. Und zwar steht darin, dass die Rüstungsexporte an Drittländer weiter eingeschränkt werden würde. Das widerspricht den Tatsachen: Diese lauten, dass die GroKo gegenüber der Vorgängerkoalition bestehend aus Union und FDP die Waffenlieferungen an Drittländer um 45 % gesteigert hat und der Anteil heute bei über 60 % liegt, d.h. mehr als 60% der Waffenlieferungen gehen an Länder wie Saudi Arabien, Qatar, Vereinigte Arabische Emirate, Algerien oder Ägypten. Die deutsche Rechtslage ist hier eindeutig und besagt, dass man Drittländer nur in absoluten Ausnahmefällen beliefern darf, aber nicht im Regelfall und über 60 % sind eindeutig der Regelfall, so dass hier permanenter Rechtsbruch vorliegt.

Was bedeutet diese Entwicklung in Bezug auf die Militarisierung der Europäischen Union?

Das ist leider ein Schritt in die weitere Militarisierung der Europäischen Union auf mehreren Ebenen. Die deutschen Waffenexporte werden weiter steigen und die Zahl der finanziellen Zuwendungen an die Bundeswehr im Rahmen des Verteidigungshaushalts werden drastisch gesteigert und damit ist zu befürchten, dass die Zahl der Bundeswehrauslandseinsätze massiv zunimmt. Das ist keine Politik der Abrüstung, sondern das ist eine Politik der Aufrüstung und Militarisierung.

Kann man also auch davon ausgehen, dass die Waffenlieferungen an die Türkei weitergehen werden, trotz der Diskussionen über den Angriff gegen die syrische Enklave Afrin?

Definitiv ja! Denn die Bundesregierung schließt nur aus, dass Waffenlieferungen an Staaten gestoppt werden, die im Jemen-Krieg militärisch intervenieren. Sie schließt nicht aus, dass andere kriegsführende Staaten wie die Türkei oder der Irak weiterhin deutsche Kriegswaffen erhalten. Da die Koalitionäre das im Koalitionsvertrag definitiv nicht festgelegt haben, da die CDU das Wirtschaftsministerium im Falle der Zustimmung der SPD-Mitglieder übernehmen wird, gehe ich massiv davon aus, dass die Waffenexporte nicht nur erhalten bleiben, sondern auch offensiv fortgeführt werden, was durchaus einem Bruch des deutschen Grundgesetzes gleichkommt, denn das Grundgesetz schreibt die Friedenspflicht vor und das Kriegswaffenkontrollgesetz verbietet Waffenexporte an kriegsführende Staaten überhaupt, aber diese Bundesregierung, die offensichtlich fortgesetzt werden soll, hat in den vergangenen 4 Jahren massiv Waffen an Länder mit Menschenrechtsverletzungen wie Ägypten, Saudi Arabien oder Algerien geliefert. Mit den Kriegswaffenexporten, die die GroKo genehmigt hat, vor allem an Länder, die am Jemen-Krieg beteiligt sind, leistete sie massiv Beihilfe zum Mord.

Wie ist die internationale Rechtslage in Bezug auf die Türkei?

Mit Sicherheit ist die militärische Intervention der Türkei in Nordsyrien/Afrin völkerrechtswidrig und durch das internationale Völkerrecht nicht abgedeckt. Auf der anderen Seite haben die Vorgängerregierungen der jetzigen GroKo beginnend mit der rot-grünen Bundesregierung unter der Führung von Gerhard Schröder es versäumt, mit der Türkei beim Verkauf der Leopard-2-Panzer Klauseln zu vereinbaren, dass die Türkei mit diesen nicht in Nachbarländer intervenieren darf, so dass die Türkei sagen kann, dass die Bundesregierung keine Legitimation habe, den Stopp des Einsatzes der Leopard-Panzer zu fordern. Die Vertragslage ist im Sinne der Türkei, aber nicht im Sinne des Völkerrechts. Ganz oben steht aber nicht nationales Recht, nicht die deutsche Vertragsvereinbarung, sondern ganz oben steht das Völkerrecht. Das Völkerrecht sagt ganz eindeutig, dass hier ein Bruch des internationalen Völkerrechts vorliegt – und das mit deutschen Panzern. Aber es bleibt nicht nur bei Panzern. Die türkischen Soldaten sind bis an die Zähne hochgerüstet mit deutschen Kleinwaffen, was beginnend in den 70´er Jahren mit der Vergabe verschiedener Lizenzen vonstatten ging. Deutsche Waffen sind übrigens die Standardwaffen der türkischen Sicherheitskräfte und Militärs schon immer gewesen und wurden schon immer im Südosten der Türkei, in türkisch-Kurdistan, gegen die Kurden eingesetzt. Ich habe bereits fünf Reisen nach türkisch-Kurdistan unternommen und habe auch (Undercover) mit türkischen Soldaten gesprochen, die mir bestätigten, dass von den bis 1999 getöteten bis zu 30000 Kurden ca. 80-90 % mit Heckler&Koch-Waffen ermordet wurden.

Die Türkei behauptet doch, dass die Waffen nationale Produkte seien. Ist das möglich?

Das ist eine Definitionssache und falsche Aussage. Wenn die türkische Regierung zugibt, dass die Soldaten mit Heckler&Koch-Kleinwaffen ausgerüstet sind, dann wissen wir, dass sie zwar bei MKEK in Ankara hergestellt werden, aber mit deutscher Lizenz. Die türkische Regierung kann das so auslegen, dass diese national produziert wurden und somit nationale Produkte sein können. Aber das ist definitiv falsch, was die Leopard-2-Panzer verschiedener Typen betrifft. Denn diese waren Lieferungen über verschiedene Jahre aus Deutschland und somit ist die Aussage der Türkei nicht korrekt.

Rheinmetall möchte in der Türkei weitere Waffen bauen. Wie wird die neue Regierung darauf reagieren?

Ich glaube, dass man einen Mittelweg finden wird. Im Moment, so hoffe ich es zumindest, ist es nicht möglich, eine Mehrheit für dieses Vorhaben zu finden. Ich befürchte aber, dass sobald sich die Lage ein bisschen entspannt hat und die Türkei sich aus Syrien zurückzieht, man dieses Vorhaben durchziehen wird. Mit unserer Kampagne „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“ werden wir versuchen, Druck aufzubauen, so dass es zu diesem Vorhaben nicht kommen wird. Am 8. Mai findet in Berlin die Hauptversammlung des größten deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall statt. Wir werden dort massiv präsent sein. Wir werden mit gewaltfreien Aktionen vor der Versammlung auf dieses Geschäft aufmerksam machen. Viele von uns haben jeweils eine Aktie des Konzerns gekauft und haben somit die Möglichkeit, kritische Fragen zu stellen und der Konzern ist verpflichtet, zu antworten. Wir werden den Opfern eine Stimme und Tätern ein Gesicht geben.

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