Gerd Wiegel, Politikwissenschaftler, Leiter des Referats Demokratie, Migrations- und Antirassismuspolitik in der Bundesvorstandsverwaltung des DGB hat unsere Fragen zum Aufstieg der Rechten in Deutschland und Europa beantwortet. Gerd Wiegel arbeitet und publiziert seit vielen Jahren zur extremen Rechten in Deutschland und Europa.
Oktay Demirel
Wie erklären Sie die Zuwächse der AfD? Von welchen Themen profitiert sie besonders?
Das erneute Anwachsen der AfD in den Umfragen hat vor etwa einem Jahr begonnen. Bei den Bundestagswahlen 2021 hat sie ein Ergebnis von 10, 3 Prozent erzielt, das war im Vergleich zu 2017 ein Verlust von 2,3 Prozent. Nach der Bundestagswahl erlebte die AfD einen Höhenflug und stand in den Umfragen teilweise bei 18 Prozent. Damals lag das vor allem an den Auseinandersetzungen um die Themen Flucht und Migration, die zu einem heftigen Streit zwischen CDU und CSU führten. Kein Thema ist so mobilisierungsfähig für die AfD wie das Thema Flucht und Migration. Aktuell kommen aber weitere Themen hinzu: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine macht vielen Menschen Angst. Die AfD inszeniert sich als Friedenspartei – die sie nicht ist. Sie lehnt alle Sanktionen gegen Russland ab, was vor allem in Ostdeutschland, wo auch die ökonomischen Auswirkungen der Sanktionen bemerkbar sind, gut ankommt. Generell profitiert die AfD von der überall spürbaren Verunsicherung nach Jahren der Dauerkrise: Aufnahme von Geflüchteten, Corona, Krieg, Inflation, Klimawandel. Viele Menschen sehnen sich nach Stabilität und Sicherheit und die AfD verspricht ihnen, es müsse sich gar nichts ändern, wenn man nur die Geflüchteten rausschmeiße und sich auf die Nation als Schutzraum zurückziehe.
Warum haben die anderen Parteien vor allem in Ost-Deutschland ihre Basis verloren?
Die Parteibindung im Osten war von Anfang an nicht besonders groß. Anders als in Westdeutschland gibt es hier häufig keine feste Bindung an Parteien, sondern eine sehr konkrete Erwartungshaltung. Wenn die enttäuscht wird, versucht man es mit einer anderen Partei. Auch im Westen lässt sich tendenziell diese Auflösung alter Bindungen beobachten.
Hinzu kommen die massiven sozialen Verwerfungen, die der Vereinigungsprozess seit 1990 mit sich gebracht hat. Bis heute ist das Einkommensniveau in Ostdeutschland deutlich niedriger als im Westen. Ostdeutsche sind in der Funktionselite, in den Medien, der Wirtschaft und vielen anderen Bereichen unterrepräsentiert. Viele mussten oder müssen sich für ihre Biographie rechtfertigen. Die verbreitete Wahrnehmung ist, dass all diese Ungerechtigkeiten von den etablierten Parteien ignoriert werden, oder, wie bei der Linkspartei, sie zu schwach sind, sie zu verändern.
„AfD-Wähler mehrheitlich aus der Mittelschicht“
Wer sind die Wähler der AfD in Ostdeutschland? Gibt es Unterschiede zu Westdeutschland?
Die AfD behauptet von sich, sie sei eine Volkspartei und in der Tat zieht sie Stimmen aus allen Teilen der Bevölkerung. Wahlsoziologisch sind die Unterschiede zwischen Ost und West nicht groß. Es sind vor allem Männer der mittleren Jahrgänge, mit mittleren bis niedrigen Bildungsabschlüssen, die überdurchschnittlich die AfD wählen. Ihr Anteil unter Arbeitern ist in Ost und West überproportional. Der zahlenmäßig größte Teil kommt jedoch aus den Mittelklassen – Angestellte, kleine Selbständige. In großstädtischen Milieus ist die AfD meist nicht so erfolgreich, in kleinen Städten und auf dem Land dafür umso mehr.
In Ostdeutschland kommt hinzu, dass die Brüche in den Lebensbiographien hier viel verbreiteter sind, die Verbitterung über eine falsche Politik größer ist und dass durch die starke Abwanderung in den 1990er und frühen 2000er Jahren überproportional viele Menschen den typischen AfD-Wählern entsprechen.
Wie sollte sich die politische Linke aufstellen, um den Arbeiterinnen und Arbeiter eine politische Stimme zu geben?
Rechte Wahlerfolge sind auch ein Ergebnis des Versagens der Linken, wenngleich der Aufstieg der AfD sicherlich nicht allein auf Fehler der Linken zurückzuführen ist. Aber ganz offensichtlich haben gerade viele Arbeiterinnen und Arbeiter die Hoffnung verloren, dass die politische Linke Verbesserungen für sie erreicht. Sieht man über den Tellerrand der Bundesrepublik hinaus und guckt auf die Entwicklung des Aufstiegs der Rechten in ganz Europa, dann sieht man, dass dieser Aufstieg in den späten 1990er Jahren mit dem Siegeszug des Neoliberalismus einhergeht. Diese auf extreme Konkurrenz und den Abbau staatlicher Leistungen zielende Variante des Kapitalismus wurde auch von sozialdemokratischen Parteien massiv durchgesetzt: etwa durch Labour unter Tony Blair in Großbritannien oder durch die SPD unter Gerhard Schröder. Viele Sozialwissenschaftler sehen einen Zusammenhang zwischen dem Neoliberalismus und dem Aufstieg einer modernisierten Rechten vom Typ der AfD.
Eine Linke, die aus diesen Fehlern der Vergangenheit lernen will, muss sich von diesem Kapitalismusmodell vollständig verabschieden. Mit dem gegenwärtigen Mantra der Schuldenbremse und dem Sparhaushalt erleben wir aber das genaue Gegenteil. Aus meiner Sicht ist das angesichts der massiven Verunsicherung in größeren Teilen der Bevölkerung ein Aufbauprogramm für die AfD. Die Linke muss die sozial-ökologische Transformation so gestalten, dass sie nicht zuerst und vor allem auf Kosten der kleinen Leute geht.
Welche Rolle können Gewerkschaften hierbei übernehmen?
Gewerkschaften können dabei helfen, den nötigen Druck auf Regierungen zu entfalten, ihre Politik nicht an den Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter vorbei zu machen. Sie sind klar Partei in der Auseinandersetzung von Kapital und Arbeit und stehen für eine Umverteilung von oben nach unten. Gewerkschaften sind vielleicht die letzten großen Massenorganisationen, die den immer offensichtlicheren Riss zwischen den Anhängern eines rechten Autoritarismus und den Verteidigern der Demokratie überbrücken können. Im Betrieb, in der Arbeitswelt generell begegnen sich noch Menschen, die politisch und kulturell sonst wenig bis nichts verbindet. Auch Teile derjenigen, die zur Rechten neigen oder sie gar wählen, sind von Gewerkschaften manchmal noch erreichbar. Das bringt eine große Verantwortung mit sich: Politisch stellen sich Gewerkschaften klar antifaschistisch auf, hier muss es klare Kante geben. Aber gleichzeitig ein offenes Ohr für berechtigte Ängste und Sorgen und das Versprechen, sich gemeinsam und solidarisch für sozialen Fortschritt einzusetzen. Rassismus, Nationalismus und Ausgrenzung schwächen diesen Kampf und überdecken das, was die Menschen tatsächlich verbindet: die gemeinsame Erfahrung der Arbeit und den Anspruch auf ein gutes Leben.