Written by 14:00 HABERLER

Brauchen die Kurden eine „neue Staatsgesinnung“?

Yusuf KARATAŞ

Die Frage über die zukünftige politische Linie der HDP wird im Vorfeld des Parteitags am 23. Februar ausführlich diskutiert. Dabei treten hauptsächlich zwei Punkte hervor: Welche politische Linie ist hinsichtlich der kurdischen Frage zu verfolgen? Und zweitens: Wie soll die Bündnispolitik gestaltet werden?

Der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, der seit 2016 als Geisel gehalten wird, analysierte in einem Interview mit Derya Okatan von Artı-Gerçek die aktuelle politische Lage. Seine Analysen kann man unter zwei Überschriften zusammenfassen: Erstens beantwortet er die Frage, wie die Politik künftig gestaltet werden soll, wie folgt:

“In der langen Amtszeit der AKP wurden bestehenden Zerstörungen neue hinzugefügt. Den aktuellen Schaden kann keine Partei allein beheben. Um die Krise zu überwinden, braucht es eines Bündnisses von Parteien, die sich auf kleinste gemeinsame, demokratische Nenner verständigen können. Es kann zunächst ein demokratisches Bündnis und später eine Koalition mit allen Parteien gebildet werden, die im Rahmen einer neuen Verfassung auf der Grundlage eines Mindestprogramms zusammenkommen, das Freiheiten und eine demokratische Gesellschafts- und Staatsstruktur vorsieht.”

Als Kreise, die sich diesem Bündnis anschließen könnten, werden „Kemalisten, Konservative, Kurden, Aleviten, Linke und Liberale“ genannt.

Zweitens resultiert aus dieser Politikgestaltung der entsprechende Lösungsvorschlag: „Wenn auch die HDP sich in diesem Prozess an der Koalitionsregierung beteiligt, werden jahrhundertealte Probleme auf der Grundlage der einheitlichen Türkei gelöst. Deshalb müssen die HDP, die Staatsräson und alle anderen politischen Parteien offen die Diskussion über die Option einer Regierung mit HDP-Beteiligung führen.“

Fangen wir mit dem ersten Punkt an: Die beiden letzten Wahlen vom 24. Juni 2018 bzw. 31. März 2019 waren Wahlen, bei denen sich zwei Lager gegenüberstanden: einerseits das AKP-MHP-Bündnis, andererseits das von CHP und IYI Parti angeführte Bündnis. In dieser Zeit verfolgten die demokratischen Kräfte und Arbeiterbewegung eine Taktik mit dem Ziel, die für die von Demirtaş erwähnten Zerstörungen verantwortlich sind. Die beste Begründung für diese taktische Haltung hatte Demirtaş selbst geliefert: „Geht wählen! Legt eure Bedenken ab und stimmt so, dass es Nein zum Faschismus bedeutet. So kann ein Wahlausgang erreicht werden, der die Entwicklung von Demokratie und Frieden ermöglicht.“

Seine jüngsten Erklärungen gehen allerdings darüber hinaus. Dem kurdischen Volk und den demokratischen Kräften und der Arbeiterbewegung macht er den Vorschlag, ein „demokratisches Bündnis“ und eine „demokratische Koalition“ mit einem der bürgerlichen Lager einzugehen. Es ist zweierlei, ob man aus den Widersprüchen der bürgerlichen Lager untereinander Kapital für den Kampf um Demokratie zu schlagen versucht, oder ob man seine Kraft in die Dienste der Kreise stellt, die sich gegen die reaktionärste Alternative stellt und für das frühere parlamentarische System einsetzt. Demirtaş ruft zwar linke Kräfte zu einem gemeinsamen Auftreten in einem solchen Bündnis auf, allerdings ändert das nichts am Inhalt seines Vorschlags, der die bürgerliche Alternative für breite Massen zu einem Quell der Hoffnung macht.

Auffallend ist, dass dieser Design-Vorschlag nicht unabhängig von den Debatten um ein neues Design im Nahen Osten und von den Kämpfen der Imperialisten um die Vorherrschaft in der Region unterbreitet wird. Deshalb wird diese neue bürgerliche Option auch von westlichen Imperialisten unterstützt, die sich an der Alleinherrschaft Erdoğans stören und in der Türkei ihre eigenen Handlanger als Machthaber installieren wollen.

Im Mittelpunkt der Diskussion steht also die wichtige Frage, wie sich revolutionäre-demokratische Volkskräfte positionieren müssen. Sollen sie sich angesichts der Widersprüche und Konflikte zwischen den Imperialisten bzw. deren Handlangern auf die Seite eines Lagers stellen? Oder soll man versuchen, aus diesem Widerspruch im Sinne der Volkskräfte Kapital zu schlagen? Demirtaş macht als „mittelfristige Strategie“ den Vorschlag, ein „demokratisches Bündnis“ bzw. eine „demokratische Koalition“ mit dem bürgerlichen Lager zu bilden. Jenseits vom verfolgten Ziel wird ein solcher Vorschlag nicht dazu führen, eine revolutionäre-demokratische Alternative aufzubauen, die sich gegen die Imperialisten in der Region bzw. deren Handlanger im Land stellt. Ganz im Gegenteil favorisiert diese Strategie, die seinerzeit von der kurdischen Nationalbewegung als der „dritte Weg“ bezeichnet wurde, ein Zusammengehen mit einem bürgerlichen Lager.

Zweitens erklärt Demirtaş, dass eine Regierung mit HDP-Beteiligung jahrhundertealte Probleme lösen könne und die Staatsräson über diese Alternative diskutieren solle. Sicherlich ist die Lösung der kurdischen Frage auch mithilfe einer bürgerlichen Regierung möglich. Dafür bedarf es auch keiner HDP-Beteiligung. Die Frage könnte auch auf dem Wege von Verhandlungen zwischen den Vertretern der kurdischen Nationalbewegung und einer solchen bürgerlichen Regierung gelöst werden. Allerdings ist eine bürgerliche Regierung, an der selbst die HDP beteiligt wäre, nicht im Stande, die meisten Probleme des Landes im Interesse der Werktätigen bzw. der Volkskräfte zu lösen. Auch die Syriza in Griechenland, die wie die HDP eine Verfechterin der Radikaldemokratie ist, musste ein bürgerliches Programm verfolgen und erlitt großen Vertrauensverlust in der Bevölkerung.

Es spricht natürlich nichts dagegen, dass ein bürgerliches Lager oder eine Partei daraus die HDP als legitime Ansprechpartnerin akzeptiert und entsprechende Kontakte zu ihr aufbaut. Ganz im Gegenteil ist das eine Grundvoraussetzung der bürgerlichen Demokratie. Wenn man aber von „Staatsräson“ spricht, sollte man nicht vergessen, dass ihr Ziel die Verteidigung der Interessen bzw. der Herrschaft der bourgeoisen Klasse ist. Der Staatsräson die Gründung einer Regierung mit HDP-Beteiligung vorzuschlagen, stützt sich auf die Erwartung, dass die Bourgeoisie ihre eigenen Interessen aufgeben würde und schafft deshalb Illusionen. Dieser Vorschlag nimmt in Kauf, dass die kurdische Bevölkerung und alle anderen Wähler der HDP in den Dienst der Staatsräson gestellt werden. Eine tatsächliche Lösung ist jedoch nur möglich, wenn diese Millionen gegen sie aufgestellt werden.

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