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Warum sich Türkeistämmige mit den Wahlen in der Türkei beschäftigen

Mirkan Doğan

3 Millionen türkische Wahlberechtigte leben in über 60 Ländern außerhalb der Türkei. Von diesen ist mit knapp 414.000 registrierten Wähler:innen die Gruppe der 18 – 24 Jährigen die größte Gruppe. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich auch am stärksten an den Wahlen beteiligt. Im Gegenteil, die größte Wahlbeteiligung z.B. bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 bei den 50 – 64-Jährigen gewesen. In Deutschland besitzen 1,5 Millionen Menschen den türkischen Pass oder neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft. Eine erhebliche Zahl der Türkeistämmigen in Deutschland wählt bekanntlich die AKP. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 bekam Erdoğan 422.558 Stimmen aus Deutschland, aber auch die kurdische HDP schneidet in Europa oft besser ab, als in der Türkei. Die türkeistämmigen Wähler:innen im Ausland sind also eine entscheidende Gruppe bei Wahlen in der Türkei. Und wir erleben auch, wie sich türkeistämmige Jugendliche stark mit der Politik in einem Land, in dem die meisten noch nie gelebt haben, beschäftigen. Ob Wahlen, Naturkatastrophen oder Proteste: Wenn sich die Situation in der Türkei zuspitzt und der Ton in der Debatte immer härter wird, dann kommt das auch hier in Deutschland an.

Besonders in Zeiten des Wahlkampfs merken wir, wie die Stimmung unter den Türkeistämmigen hier droht zu kippen. Nicht nur bei unseren Eltern und Großeltern, sondern auch bei uns, unter der türkeistämmigen Jugend. Viele von uns verfolgen die politischen Entwicklungen und haben auch ein Interesse an Themen, die die Türkei betreffen. Erinnern wir uns zurück an das Referendum zum Präsidialsystem, an die landesweiten Gezi-Proteste oder an all die militärischen Operationen in Syrien. All diese Diskussionen wurden auch hier geführt.

THEMA TÜRKEI IST IMMER NOCH RELEVANT

Wir sehen, dass das Thema Türkei immer noch für uns bedeutend ist. Schließlich leben immer noch große Teile unserer Familien in der Türkei. Wir verbringen größtenteils unsere Sommerferien in der Heimat unserer Eltern bzw. Großeltern. Wir sprechen – mal besser, mal schlechter – die Sprache und kennen die Kultur, wie keine andere. Entsprechend fassungslos und traurig waren wir, als wir aus Deutschland nur zusehen konnten, als große Teile der Türkei durch ein Erdbeben zerstört wurden. Diese Verbundenheit sitzt tief. Wir sind eine Gruppe von Jugendlichen, die hier geboren und aufgewachsen sind, aber nie hundertprozentig Teil der Gesellschaft sind. In erster Linie sind die unmittelbaren Bedingungen in Deutschland dafür verantwortlich. Unsere Großeltern und teilweise auch unsere Eltern wurden bewusst abgeschottet, sollten die Sprache nicht lernen, ihre Nachbar:innen im Optimalfall gar nicht kennenlernen, sondern arbeiten und wieder gehen. Das passierte nicht und viele blieben hier, bauten sich ein Leben auf, aber blieben immer mit einem Auge in der Heimat. Sie erlebten Rassismus, Ausgrenzung, mussten in schlechtergestellten Jobs ohne echte Absicherung arbeiten. Viele flüchteten sich darin, sich weiter stärker für die Türkei, als das Geschehen in Deutschland zu interessieren, hier durften ohnehin viele gar nicht mitbestimmen. Die türkische Politik überzog sie, als wichtige politische und Einkommensquelle, mit ihrer Propaganda, durch Fernsehen oder Zeitungen.

Doch was ist mit uns? Der dritten, vierten, vielleicht sogar fünften Generation? Wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen wir uns nicht verständigen oder einmischen können. Viele von uns sprechen besser Deutsch, als Türkisch. In der Türkei haben die wenigsten mal gelebt, eher kennen wir nur das Dorf unserer Eltern aus sechs Wochen Sommerferien und noch ein paar Hotels am Strand und Istanbul vom letzten Städtetrip. Viele von uns haben mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft. Also warum interessieren wir uns so sehr für das Geschehen in der Türkei, dass wir zur Wahlurne gehen und über die Zukunft eines Landes, in dem wir nicht leben, mitentscheiden? Und wie kommt es, dass ein nicht unerheblicher Teil sich ausgerechnet mit der AKP, einer Partei, die für alles andere als Modernität und Gleichberechtigung steht, identifiziert?

GEGENWÄRTIG NIMMT DER EINFLUSS DER AKP AB

Die Gründe dafür sind eigentlich gar nicht so viel andere, wie bereits auf Seite 1 in der Zeitung, beschrieben, doch kommen bei uns Jugendlichen noch Sachen hinzu. Wie alle anderen Jugendlichen auch, ist die erste politische Richtung, mit der wir Bekanntschaft machen, die unserer Eltern. Wenn unsere Eltern also von der AKP Propaganda beeinflusst sind, ihre Kanäle schauen und Teil ihrer Lobbyorganisationen sind, werden wir es oft auch. Und für Jugendliche haben AKP- oder MHP nahe Organisation zahlreiche Angebote. Günstige Fußballvereine, Jugendzentren, in denen andere türkeistämmige Jugendliche sind, die ähnliche Probleme haben, wie man selbst und in denen man nicht das Gefühl bekommt, nicht dazu zu gehören. Rassismuserfahrungen treiben viele Jugendliche auch weiterhin in die Hand derjenigen, die vorgaukeln, dass sie ihnen wichtig seien. Besonders in Sachen Religion ist das der Fall: die AKP verkauft sich hervorragend als die Interessensvertretung von all jenen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Islam diskriminiert werden. Die Erfahrungen, die Jugendliche, für die Deutschland ihr Zuhause ist, hier machen, die fehlende Möglichkeit zur Mitbestimmung und der Einfluss der AKP Propaganda und Lobby treiben sie dazu, eine Politik zu unterstützen, die weder in ihrem, noch im Interesse ihrer Familienmitglieder in der Türkei ist.

Doch gleichzeitig zeigt das gute Abschneiden der HDP in Deutschland auch, dass es auch jungen Menschen in Deutschland nicht egal ist, wie es der Demokratiebewegung in der Türkei ergeht. Wenn man sich heute, als in Deutschland lebende:r Türkeistämmige:r Jugendliche an den Wahlen beteiligt, muss man im Sinne der internationalen Solidarität die fortschrittlichen, demokratischen Kräfte in der Türkei unterstützen. Die Jugend in Deutschland ist solidarisch mit der Jugend in der Türkei, die sich für eine Zukunft in Freiheit und Gleichberechtigung einsetzt.

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