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Dann sind wir alle “neutral” und “unparteiisch”

İhsan ÇARALAN

Dem Ja-Lager gehen die Argumente mit jedem Tag weiter aus und desto stärker setzen sie augenscheinlich auf Massenkundgebungen, die mit staatlichen Mitteln organisiert und finanziert werden. So versuchen sie den Anschein zu erwecken, die Zustimmung beim Referendum sei sicher.

Der Staatspräsident veranstaltete Kundgebungen in Istanbul und Izmir und trieb dieses Kräftezeigen auf die Spitze. Die Kundgebungen wurden gleich auf mehreren Sendern live übertragen. Auch dort wiederholte er gebetsmühlenartig das, was er seit Wochen sagt. Auffällig war lediglich, dass das Gerede von der glorreichen Zukunft Dank der AKP verstärkt wurde.

In Istanbul machte Erdoğan deutlich, wie das “Neutralitätsgebot für den Staatspräsidenten“ zu verstehen sei. Die Kritik von Kılıçdaroğlu, es dürfe keinen Präsidenten mit Parteibindung geben, erwiderte er: “Informiere dich zuerst über deine eigene Geschichte! İsmet İnönü war doch Partei- und Staatschef zugleich! Dann war Gazi Mustafa Kemal auch nicht neutral. (…) Das ist doch völliger Unsinn! Beim Dienst am Volk muss man unparteiisch sein. Wir machen doch keine Unterscheidung, wer die von uns gebauten Brücken und Straßen befahren darf! Wir sind die wahren Unparteiischen!“

Angesichts dieser Definition wird das „politische Erbe“ und das „logische System“ der gesamten Menschheit ab absurdum geführt. Denn demnach gab es in der gesamten Geschichte keinen Führer, der nicht unparteiisch war. Oder anders ausgedrückt, wäre es unmöglich, den Nachweis dafür zu erbringen, dass irgendein Führer parteiisch gewesen wäre. Selbst Hitler kam nicht auf die Idee, die Autobahnen nur für die Nutzung durch Arier freizugeben. Wenn er für sich in Anspruch genommen hätte, der Größte unter allen Unparteiischen zu sein, hätte ihm niemand widersprechen können.

Nach dieser Definition büßte der Staatspräsident nichts am Neutralitätsgebot ein,

als er das Nein-Lager beschuldigte, „gemeinsame Sache mit Terrororganisationen und Putschisten zu machen“;

als er Dutzende Male das Ausschreibungsgesetz änderte, damit seine Gefolgschaft sich eine goldene Nase verdienen kann;

als er hochrangige Bürokraten und selbst Schuldirektoren zum Rücktritt zwang, um die Stellen mit Personal aus eigenen Reihen zu besetzen,

als er Hochschulrektoren mit dem „richtigen“ Parteibuch ernannte;

als er den Hochschulrat, das Verfassungsgericht und den Rat der Richter und Staatsanwälte mit AKP-nahem Personal ausstattete.

Das alles veranlasste er, als er offiziell „nicht parteigebunden“ war. Nicht auszumalen, was passiert, wenn das Neutralitätsgebot mit dem Referendum aufgehoben wird. Staatspräsident Erdoğan hat angekündigt, im Falle einer Zustimmung zur Verfassungsänderung am Tag nach dem Referendum in die AKP eintreten werde. Selbst dieser Schritt würde nach seiner Logik keinen Schatten auf seine Neutralität werfen.

Wenn es das ist, was sie unter „neutral“ und „unparteiisch“ verstehen, dann müssten beide Wörter aus dem türkischen Wörterbuch gestrichen werden. Denn dann könnte man auf der ganzen Welt keinen finden, der „nicht neutral“ und „parteiisch“ ist. Deshalb wird ein mehrheitliches Nein beim Referendum nicht nur ein Nein zum Ein-Mann-Regime, sondern ein Ja zum Schutz der Sprache, der Logik und des gesunden Menschenverstands bedeuten.

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