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Das Scheitern der neoosmanischen Außenpolitik

Ihsan Çaralan

Zunächst erklärte Erdoğan im Anschluss an das Gipfeltreffen in Sotschi, sein russischer Amtskollege Putin habe ihm zu Gesprächen mit dem syrischen Regime geraten. Später erklärte der türkische Außenminister Çavuşoğlu, was Erdoğan gemeint habe: „Wir müssen irgendwie dafür sorgen, dass das Regime und die Opposition in Syrien sich verständigen. Sonst kann es keinen nachhaltigen Frieden geben. Ohne Feuerpause möchte niemand sich am Wiederaufbau beteiligen. Die Türkei wird ihren Beitrag leisten, aber zunächst müssen die Waffen schweigen. Dafür werden wir uns weiter verstärkt einsetzen.“ Und unmittelbar danach beschoss die türkische Armee in der Nähe von Kobanê Truppen des syrischen Militärs.

Vor dem Hintergrund eines seit 11 Jahren andauernden Kriegs und der Zerstörung wird der Übergang von einer feindseligen zu einer friedlichen Haltung gegenüber dem südlichen Nachbarn nicht einfach sein, das ist klar. Aber nun muss man die Frage stellen, wie es zu einem Artilleriebeschuss mit Unterstützung der Luftwaffe auf einen syrischen Stützpunkt weit hinter der Landesgrenze kommen konnte. Dass man es nicht einfach damit erklären kann, man habe einen feindlichen Beschuss erwidert, zumal es sich um eine koordinierte Operation des Heeres und der Luftwaffe handelt, liegt auf der Hand!

REGIERUNGSBÜNDNIS SICHERT ÇAVUŞOĞLU VOLLE UNTERSTÜTZUNG ZU

Çavuşoğlu bestritt eine Änderung der türkischen Haltung gegenüber Syrien. Angesichts der Protestaktionen im von der Türkei kontrollierten Norden Syriens, bei denen türkische Flaggen verbrannt wurden, sah er sich gezwungen, seine Erklärungen zu relativieren: “Wir sagen nichts Neues. Das ist unsere Haltung seit 11 Jahren.” Trotzdem unterstützten große Teile des Regierungsbündnisses und der Medien eine Änderung in der Syrien-Politik und forderten gar eine weitergehende Annäherung zum syrischen Regime und seinem Anführer Assad.

Der MHP-Vorsitzende Bahçeli, der noch vor zwei Jahren großmäulig verkündete, gegebenenfalls müsse sich „die türkische Nation darauf vorbereiten, in Damaskus einzumarschieren. Syrien soll niederbrennen. Idlib soll dem Erdboden gleichgemacht, Assad gestürzt werden“, schlägt heute ganz neue Töne an: „Wir stehen voll und ganz hinter den Bemühungen unseres Außenministers, zwischen der Opposition in Syrien und Assad zu vermitteln.“

Der Vizevorsitzende der AKP, Hayati Yazıcı, ging sogar weiter als Çavuşoğlu. Die vom Außenminister angekündigten niederschwelligen Kontakte seien nicht ausreichend. Ankara solle direkten Kontakt zu den Machthabern in Damaskus suchen.

Der Chefkolumnist der Zeitung Sabah, Mehmet Barlas, gehörte auch zu den Unterstützern von Çavuşoğlu und machte den früheren Außenminister und Regierungschef Ahmet Davutoğlu für die heutige Misere der türkischen Außenpolitik verantwortlich: „Es ist längst an der Zeit, den unter Federführung von Hillary Clinton und dem Ex-Regierungschef Davutoğlu eingeschlagenen Irrweg zu verlassen und die türkische Syrien-Politik zu korrigieren.“ Nach seiner Ansicht ist also für die neoosmanische Außenpolitik, die die AKP seit 11 Jahren verfolgt, einzig Davutoğlu verantwortlich und muss umgehend aufgegeben werden.

Barlas ist mit seiner Einschätzung nicht allein. Zahlreiche Kolumnisten in den AKP-nahen Medien kritisieren die türkische Syrien-Politik neuerdings ebenfalls als die “Außenpolitik Davutoğlus“.

In diesen Tagen meldeten sich auch der Chef der Querfront Vatan-Partei, Doğu Perinçek und sein neuer Mitstreiter Ethem Sancak zu Wort. Sie kündigten eine Reise nach Damaskus an, von der der Präsidentenpalast unterrichtet sei. Es ist davon auszugehen, dass sie als Vermittler im Auftrag seiner Exzellenzen diese Reise antreten werden!

REGIERUNG GESTEHT DAS SCHEITERN DER NEOOSMANISCHEN AUSSENPOLITIK EIN

Es ist interessant zu beobachten, dass das Regierungsbündnis und regierungsnahe Medien die Ankündigungen von Erdoğan und Çavuşoğlu zum Anlass nehmen, um nicht nur mit Syrien hart ins Gericht zu gehen, sondern in Person von Davutoğlu die seit Jahren verfolgte neoosmanische Außenpolitik zu verurteilen.

Das kann man natürlich damit erklären, dass Vertreter des Regierungsbündnisses und ihrer Sprachrohre nichts verlautbaren lassen, wenn sie sich der Unterstützung von Bahçeli und Erdoğan nicht sicher sind. Wenn man allerdings die Schwierigkeiten berücksichtigt, mit denen jede Initiative zur Normalisierung der türkisch-syrischen Beziehungen zu kämpfen hat, ist zu erwarten, dass dieser Prozess nicht konfliktlos abläuft und es immer wieder zu Rückschlägen kommen wird. Allerdings sind zwei Ereignisse der letzten Zeit im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung aussagekräftig:

1-) Initiativen, die 2007 mit der Debatte über den „Übergang zur aktiven Außenpolitik” starteten und im Laufe des Bürgerkriegs in Syrien konkret umgesetzt werden sollten, sind fehlgeschlagen. Heute gesteht auch die Regierung das Scheitern dieser neoosmanischen Außenpolitik ein.

2-) Das Verhältnis von Putin und Erdoğan bzw. das Übergewicht Putins in diesem Verhältnis bestimmen heute den Weg, der in der Syrien-Politik eingeschlagen wird. Die Auswirkungen werden wir in der kommenden Zeit in der Wirtschafts-, Außen- und immer mehr auch in der Innenpolitik zu spüren bekommen.

MIT SCHULDZUWEISUNG AN DAVUTOĞLU KÖNNEN SIE SICH NICHT REINWASCHEN

Die Machthaber werden im Zuge dieser Entwicklungen weiterhin versuchen, die Verantwortung für das Scheitern in der Außenpolitik Ahmet Davutoğlu in die Schuhe zu schieben. Sie werden versuchen, sich reinzuwaschen, indem sie sich als „getäuschte“ Opfer darstellen. Dies kennen wir auch aus anderen Kontexten. Sicherlich kommt Davutoğlu bei der Umsetzung dieser Außenpolitik eine wichtige Rolle zu. Und die Öffentlichkeit erwartet von ihm in dieser Frage Selbstkritik. Allerdings darf sich Erdoğan, der Davutoğlu zunächst zu seinem außenpolitischen Berater, dann seine Mär von der „strategischen Tiefe“ zur Grundlage der eigenen Außenpolitik machte, um ihn später zum Außenminister und schließlich zum Regierungs- und AKP-Chef zu ernennen, von der Verantwortung für das Elend und die Todesopfer nicht reinwaschen.

Und der Neoosmanismus beschränkt sich schließlich nicht nur auf die Syrien-Politik. Der Aufbau von Stützpunkten in Libyen und die Entsendung von Soldaten dorthin, der Aufbau von Militärstützpunkten in Somalia, Sudan, Katar, Aserbaidschan, die zahlreichen Militäroperationen in Irak-Kurdistan sind Folgen der neoosmanischen Außenpolitik. Und das Scheitern dieser Außenpolitik in Syrien macht es erforderlich, dass die Türkei sich auch aus den anderen Ländern zurückzieht.

Wenn wir berücksichtigen, mit welchem Tempo sich die entfachte Debatte ausbreitet, ist davon auszugehen, dass sie in der nächsten Zeit unter neuen Aspekten und mit weiteren Ergebnissen fortgeführt wird.

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