Sedat Kaya / Hamburg
Im September 2022 erschien „Die Diversität der Ausbeutung – Zur Kritik des herrschenden Antirassismus“ im Dietz-Verlag Berlin. Die Herausgeberinnen Bafta Sarbo und Eleonora Roldan Mendivil kritisieren darin den liberalen Antirassismus. Wir haben mit Bafta Sarbo über das Buch gesprochen.
Seit der Wahl der Ampelkoalition gibt sich die Regierung als besonders divers und inklusiv. Zum ersten Mal ist ein Türkeistämmiger (Cem Özdemir) Bundesminister und auf hohen politischen Ebenen finden sich migrantische Personen wieder. Warum gerade jetzt euer Buch?
Die Herausgabe von unserem Buch war eigentlich zu einem früheren Zeitpunkt geplant, aber vielleicht ist die Kritik am liberalen Antirassismus gerade jetzt mit der Ampelkoalition viel relevanter geworden. Sie versucht, sich mit progressiven Begriffen zu schmücken, indem im Koalitionsvertrag so etwas wie „intersektionale Gleichstellungspolitik“ steht oder generell antirassistische und feministische Themen belegt werden. Aber gleichzeitig wird gefordert, Abschiebungen im Rahmen einer „Rückführungsoffensive“ konsequenter durchzuführen. Diversität löst keine Probleme und dazu beantwortet unser Buch Fragen. So haben uns viele Rückmeldungen von Personen aus „diversity“-Institutionen oder aus dem Antidiskriminierungsbereich erreicht, die uns sagen, dass unser Buch genau den Widerspruch benennt, den sie, aber auch wir selbst immer wieder verspürt haben. Unser Buch ist deshalb ein Produkt praktischer Erfahrung.
Wie unterscheidet sich euer Begriff von Antirassismus davon in eurem Buch?
Das Problem ist, dass Rassismus häufig als ein Vorurteil oder Bewusstseinsproblem verstanden wird, also dass Menschen Stereotype über andere Gruppen haben. Das ist natürlich ein Aspekt von Rassismus. Aber wir wollen uns im Buch auf der Grundlage einer materialistischen bzw. marxistischen Theorie ansehen, was hinter diesen Erscheinungen steckt. Wie kommt es zu diesen Stereotypen? Rassistische Ideologien, seien es klassische Formen des Kolonialrassismus oder Rassentheorien, sind mit der Entstehung des Kapitalismus verbunden, weil man rechtfertigen wollte, kolonisierte Völker über ein normales Maß hinaus überauszubeuten. Erscheinungen wie spezielle Tarifgruppen mit schlechterer Bezahlung für migrantische Arbeiter oder dass diese Berufe ausüben, in denen sie länger und härter als üblich arbeiten müssen, ziehen sich bis heute. Dabei ist der Begriff der Überausbeutung im Buch für uns ein zentraler Begriff, durch den wir verstehen wollen, wie sich der Rassismus in eine ökonomische Grundlage einbettet. Wir möchten aufzeigen, dass es möglich und nötig ist, gemeinsam zu kämpfen. Nicht nur, um die Überausbeutung abzuschaffen, sondern um Ausbeutung insgesamt abzuschaffen – durch gemeinsame Klassenorganisierung. Ein Beispiel, das wir auch auf Buchvorstellungen häufig verwenden sind die wilden Gastarbeiterstreiks in den 70er Jahren. Insbesondere zwei Forderungen waren dort prominent: die Abschaffung der Leichtlohngruppen (schlechter bezahlte Tarifgruppen, in den häufig Migranten und Frauen arbeiteten) und eine Mark mehr für alle. Es ging also nicht nur darum, die Überausbeutung im Betrieb abzuschaffen und die Löhne an die der deutschen Arbeiter anzupassen, sondern eine Mark mehr für Alle rauszuholen. Diese Beispiele zeigen, dass „Antirassismus“ kein „charity“-Ding ist, sondern in einem gemeinsamen Kampf für gemeinsame Interessen besteht. Antirassismus ist also für beide Seiten notwendig.
Dazu sagt ihr in eurem Buch, dass seit dem Beginn der 1990er Jahre die Arbeiterbewegung in einer schwachen Positionen ist. In den letzten Jahren haben hingegen identitätspolitische Kämpfe zugenommen. Welche Potentiale seht ihr in diesen Kämpfen für eine Arbeiterbewegung?
Wir sehen aktuell viele Bewegungen gegen Rassismus, sei es „Black Lives Matter“ in Deutschland oder die Gruppen, die als Reaktion rund um den rechten Anschlag in Hanau entstanden sind. Ich glaube, wir haben es hier mit einer jungen, radikalisierten Generation zu tun, die die Verhältnisse nicht mehr akzeptieren will. Darin steckt ein sehr progressives Element und es ist für Sozialisten wichtig, dies zu nutzen. Gleichzeitig sieht man aber wie diese Bewegungen immer mehr in eine Identitätspolitik ohne Potential für gesellschaftliche Veränderung kanalisiert wird. Und dadurch, dass die Linke, insbesondere seit den 1990ern, immer marginalisierter ist, erscheint der Sozialismus für viele Menschen keine reale Option. Er spielt in ihrem Leben keine Rolle, weil sie keine Organisation haben, die in ihrem Alltag und ihrem Leben verankert sind. In diesem Zusammenhang gibt es eine Leerstelle, die von liberalen Ansätzen gefüllt wird, die identitätspolitisch oder intersektional sind. Intersektionalität ist dabei ein Konzept, das ähnlich arbeitet. Man will damit erstmal sagen, dass Dinge zusammenhängen. Wenn man sich die Theorie der Intersektionalität aber genauer anschaut, sehen wir, dass die Frage auf eine Perspektive der Diskriminierung reduziert und Klasse als nur einen weiteren Faktor neben Geschlecht und Rassismus eingereiht. Die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse ist aber nicht nur ein Faktor der Diskriminierung, sondern bedeutet Ausbeutung. Das Verständnis dieser Ausbeutung ist aber grundlegend für das Verständnis von Rassismus, weil darin eine spezifische Macht der Arbeiterklasse steckt. Wenn wir uns jetzt beispielweise die Proteste in Frankreich anschauen, wo die größte Energiegewerkschaft auf die Straße geht und sagt: „Wenn ihr unsere Forderungen nicht durchsetzt, dann drehen wir den reichen Vierteln den Strom ab und den armen Vierteln der Strom kostenlos auf“, dann sehen wir, dass diese Macht nur die Arbeiterklasse hat. Sie schafft den gesellschaftlichen Reichtum und ist deshalb auch in der Lage, diesen anzuhalten. Das heißt nicht, dass diese Arbeiterklasse nur aus weißen Männern besteht, was die Theorie der Intersektionalität oft unterstellt. Die Arbeiterklasse ist zum großen Teil migrantisch und heute auch so weiblich wie noch nie.
Heißt das Identitätspolitik und Intersektionalität müssen zurückgedrängt werden?
Was zurückgedrängt werden muss sind separatistische Bewegungen, in denen sich jeder in seine eigene Identitätskategorie zurückziehen und jeder nur aus seiner eigenen Position sprechen darf. Wenn zum Beispiel Weißen abgesprochen wird, über Rassismus zu reden oder dazu zu arbeiten, weil das nur Betroffene machen dürften. Das ist reaktionär und muss zurückgedrängt werden. Es ist nachvollziehbar, dass Menschen sich aus ihrer unmittelbaren Betroffenheit heraus politisieren und organisieren. Sozialistische Organisationen müssen dazu in der Lage sein, auch dieses Bedürfnis bei den Leuten mit abzudecken, in dem sie selbst dazu arbeiten. Man muss halt das bessere Angebot schaffen als Identitätspolitik, dann wird’s auch funktionieren.
Das Buch kann im Dietz-Verlag unter folgendem Link bestellt werden: https://dietzberlin.de/produkt/die-diversitaet-der-ausbeutung/