Mesut Bayraktar
Während die Pandemie ein Brennglas in der Ökonomie ist, schien das Virus zu Beginn für fortschrittliche Kräfte eine politische Paralyse zu sein. Gleichzeitig wird der bürgerliche Staat, wenngleich in anderer Form, nach drei Jahrzehnten Neoliberalismus wieder präsent. Durch das Versagen vor der geschichtlichen Herausforderung, eine Seuche zum Schutz der Bevölkerung auszurotten, offenbart er seinen Klassencharakter. Mit restriktiven Maßnahmen schützt er krampfhaft das Monopol- und Großkapital zu Lasten der Bevölkerung und arbeitenden Klasse, eben weil er zu sozialplanerischen Eingriffen in die Wirtschaft unfähig ist. Er erwägt nicht einmal eine Vermögensabgabe der Geldsäcke, nicht Lohn- und Arbeitsplatzgarantien, nicht die Aufhebung des Patentschutzes auf die Coronaimpfstoffe, nicht den massiven Ausbau des Gesundheitssektors und die Einstellung von Pflegepersonal sowie deren Lohnerhöhung. Dagegen reißt die Merkel’sche Politik des planlosen Durchwurschtelns breiten Massen den materiellen Boden unter den Füßen weg und vertröstet mit leerem Wir-Gerede.
In diesem Widerspruch zwischen politischer Paralyse fortschrittlicher Kräfte, der Rückkehr des Staates in rein restriktiver Gestalt und der Vertiefung der ökonomischen Krise insbesondere für Kleineigentümer betraten die Corona-Rebellen die politische Bühne.
Vom Häufchen zur Bewegung
Am Anfang war großes Schweigen, bis im März 2020 die ersten „Hygienedemos“ vor der Volksbühne in Berlin-Mitte stattfanden. Das Häufchen aus linksesoterischer Szene, verschwörungsgeilen Impfgegnern und rechtsradikalen Ideologen verband die Leugnung des Virus. Doch politische Ziele, das eine Gruppe zu einer Bewegung qualifiziert, gab es nicht.
Kurz darauf formierte sich unter Leitung des IT-Unternehmers Michael Ballweg „Querdenken 711“, die es Anfang Mai schaffte, bis zu 5.000 Teilnehmer im Südwesten zu mobilisieren. Auch unter ihnen, hauptsächlich aus dem landwirtschaftlich geprägten Umland und den städtischen Zwischenklassen kommend, war die Leugnung des Virus zu vernehmen. Doch vielmehr einte sie das Grundgesetz als zentraler Bezugsrahmen, auf dessen Grundlage sie ihre abstrakten Freiheitsgefühle verteidigen. Hier kam der Bewegungscharakter ins Spiel. Hinter dem Freiheitspathos verbarg sich in Wahrheit Sozialdarwinismus, der als Scharnier zwischen Marktradikalismus und Faschismus fungiert. Die Armen, Schwachen, Alten sollen vor die Hunde gehen. So überrascht nicht, dass dieselben, die auf ihre Freiheitsrechte pochen, in der Praxis kein Problem damit haben, in ihren Reihen Rechtsradikale zu wissen. Damit erwiesen sich die Demonstranten als unbewusstes Vehikel für die Interessen Großbürgerlicher und völkisch-nationaler Fanatiker. Der Geist der Gegenaufklärung und die Tyrannei des Privatwohls fanden seinen organisierten Ausdruck.
Der erste Höhepunkt der Protestbewegung fand am 29. August 2020 in Berlin statt. Die sog. „Versammlung für die Freiheit!“ von Querdenken 711 hatte Zehntausende in Berlin mobilisiert. Spätestens hier hat sich eine bewusste Verbindung zwischen kleinbürgerlichen Mittelschichten mit rechtsradikalen bis offen faschistischen Elementen gezeigt. So bewarb etwa das rechtsradikale Compact-Magazin von Jürgen Elsässer die Proteste. Auch der neurechte Verleger Götz Kubitschek, der Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung Martin Sellner, Björn Höcke, Tino Chrupalla, Alice Weidel, Stephan Brandner, André Poggenburg sowie neonazistische Organisationen wie die NPD und „Der III. Weg“ riefen zur Teilnahme an den Veranstaltungen auf, ebenso Xavier Naidoo und Attila Hildmann. Am Abend des 29. August wurden die Treppen des Reichstagsgebäudes besetzt, vor allem von Reichsbürgern und Holocaustleugnern. Noch am Mittag hatte Ballweg in seiner Rede gesagt, dass das Grundgesetz ausgehöhlt sei und daher der Souverän wieder die Macht übernehmen müsse. Man wolle „an einer neuen Verfassung arbeiten“. Der „Souverän“ seien die Querdenker im Verbund mit Nazis. Auch von „DDR 2.0“ oder „Corona-Diktatur“ war die Rede – Verklärungen, die zur Selbstermächtigung vorgeschoben wurden. Die Besetzung der Treppen war der entscheidende Stoß für die vor den Schrecken des Kapitalismus wild gewordenen Kleinbürgern, die am Versagen des kapitalistischen Systems angesichts der Pandemie am selben leiden und doch unerbittlich daran festhalten wollen. Diese Überspannung macht das Kleinbürgertum anfällig für Verschwörungsmythen, ob in Form eines Antielitismus gegenüber Großkapitalisten, die ihnen als Personifikationen des Bösen Sorgen bereiten, damit sie umso unbesorgter über gesellschaftliche Klassenkonflikte hinwegsehen und der herrschenden Klasse in die Hände spielen können; ob in Form des Antisemitismus gegenüber vermeintlicher Geheimbünde von Juden; ob in Form von 5G-Verschwörungen oder von der „QAnon“-Erzählung aus der USA, wonach gierige Eliten Kindern in unterirdischen Gefängnissen ein Stoff namens Adrenochrom zur Verjüngung abzapfen. Der Wirbel am Reichstag hat sowohl die Allianz mit den rechtsradikalen Strömungen als auch den politischen Aktionswillen der Corona-Rebellen auf der Grundlage des Grundgesetzes gegen das Grundgesetz besiegelt. Aus Sicht der rechtsradikalen Avantgarde ist die Erzählung vom nationalen Notstand durch die Corona-Rebellen ein Glied in ihrer putschistischen Strategie vom nationalen Widerstand. So inszenieren sie sich als Retter der Nation.
Der zweite Höhepunkt war am 18. November 2020. Mehr als 10.000 Personen demonstrierten vor dem Reichstag. Der Bundestag wurde durch Störaktionen infiltriert. Türöffner war die AfD.
Ende 2020 wieder Stille: im Dezember rief Michael Ballweg zur Demo-Pause auf. Wann aus den Autokorsen in Stuttgart der dritte Höhepunkt hervorgeht, ist ungewiss. Mit Blick auf die bisherige Entwicklung der Bewegung wird er aber offensiver mit Rechtsradikalen einhergehen.
Gegen sozialen Fortschritt
Seit den Massenaufgeboten in Berlin ist ein weiterer Bezugsrahmen hinzugetreten, der die Corona-Rebellen mit Nazis zusammenschließt und ihren reaktionären Charakter offenlegt, nämlich der Antikommunismus, die Feindseligkeit gegen sozialen Fortschritt. In diesem wittern auch Großbürgerliche, die nach der globalen Krise seit 2008 zur spätimperialistischen Sicherung der Profitrate autoritäre Herrschaftsmodelle anstreben, für den Fall der Fälle ihre Anschlussmöglichkeit. Selbst reputable liberal-bürgerliche Blätter wie die Neue Züricher Zeitung (NZZ) sprechen vom „Seuchensozialismus“, um von vornherein jeden sozialen Fortschritt zu verunglimpfen.